Ein Licht im inklusiven Nebel

Harald Thon

Vor 30 Jahren ist in Dortmund aus der Rudolf-Steiner-Schule heraus eine eigenständige kleine Waldorf-Förderschule gegründet worden, die Georgschule. Rasch wurde sie über das Stadtgebiet Dortmunds hinaus bekannt durch ihre wegweisenden Verbesserungen des Förderschulbetriebs. Von Anfang an machte die Kunde von der guten Unterrichtsqualität der Schule für »besondere« Kinder die Runde, und heute bedient sie einen Einzugsbereich von der Fläche des Ruhrgebiets.

Die Georgschule ist staatlich anerkannt als Förderschule in eigener Trägerschaft – mit den Förderschwerpunkten emotionale und soziale Entwicklung und Lernen. Eltern, Lehrer und Therapeuten bilden eine Gemeinschaft, in welcher alle gleichberechtigt zur Entwicklung und zum Lernerfolg der momentan 170 Schülerinnen und Schüler beitragen. Die Lernatmosphäre ist warmherzig und entspannt.

Seit Mitte der 1990er Jahre herrscht eine beneidenswerte Kontinuität im Kollegium, zudem die Schule keine Probleme hat, Nachwuchs für sich zu gewinnen.

Nun hat Deutschland 2009 die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen unterzeichnet. Das bedeutet, dass alle Bundesländer verpflichtet sind, Kindern mit und ohne Behinderung gleichermaßen den Zugang zum allgemeinen Schulsystem zu ermöglichen. Da mancherorts dafür bereits ein Rechtsanspruch existiert, bedeutet das, dass Eltern für ihre behinderten Kinder Plätze an »normalen« Regelschulen fordern können und sie nicht wie bisher auf Sonderschulen schicken müssen.

Der inklusive Anspruch wird politisch reguliert. An der Stellschraube der Schüler-Lehrer-Relation wurde gedreht, für manche Gruppen, wie etwa die Schwersterziehbaren, soll die Refinanzierung seitens des Landes zukünftig entfallen. Da die Mindestschülerzahl für Förderschulen nicht herabgesetzt wurde, steht zu erwarten, dass die Mehrzahl der Förderschulen im Dortmunder Raum schließen muss. Das Regelschulsystem soll die Kinder mit Beeinträchtigungen aufnehmen. Schaut man über den nationalen Tellerrand hinaus, so sieht man, etwa in Schweden, wie beim Versuch der »Entghettoisierung« inzwischen zurückgerudert wird – nachdem man vor rund einem Jahrzehnt dort dem gesellschaftlichen Beiseiteschieben von Beeinträchtigungen den Kampf angesagt hatte.

Stefan Sonnabend, Geschäftsführer und langjähriger Pädagoge an der Georgschule, analysiert die Situation: »Inklusion verlangt eine veränderte Wahrnehmung. Fähigkeiten und Möglichkeiten jedes Einzelnen treten in den Vordergrund. Ziele und Abschlüsse müssen individualisiert, Methoden und Ausstattung vielfältiger werden. Auf der bildungspolitischen Ebene bietet die Inklusion Chancen, unser Schulsystem zu verbessern. Aber um zu gelingen, verlangt die Inklusion eine weitgehende Veränderung der Schulen – von daher wird sie eher zu einer Herausforderung für die Regelschulen als für die Förderschulen!« Auch die Georgschule reagierte: Die Klassenlehrerzeit wurde auf die ersten sechs Schuljahre beschränkt, eine Leistungsdifferenzierung in der Mittelstufe eingeführt. Weitere Veränderungen sind die Einführung von Praktika, der große Werkbereich und eine Leistungsabstufung in der Oberstufe zur besseren Vorbereitung auf die Abschlüsse. Alle strukturellen Veränderungen der Schule geben konstruktive Antworten auf die Herausforderungen der Inklusion.

In den letzten Monaten ist die Entwicklung von scheinbar gegensätzlichen Tendenzen bestimmt worden. Die Zahl der Anmeldungen von »normalen« Kindern nahm zu, vermehrt wählten Eltern die Georgschule, weil sie für ihr Kind dort die besten Förderungsmöglichkeiten sehen. Auch nahmen die Anmeldungen von Schülern zu, die bereits inklusiv beschult worden waren. Die Wahrnehmung der Georgschule hat sich verändert: War sie früher die letzte Möglichkeit, ist sie inzwischen in den Augen vieler Eltern die beste – ein Licht im inklusiven Nebel und gangbarer Weg durch inklusive Moore. Und es nehmen auch die Anmeldungen schwersterziehbarer Schüler zu; diese wollen ebenfalls einen sicheren Hafen in inklusiven Untiefen anlaufen. Offenbar mangelt es noch an Vertrauen in die staatlichen Vorhaben.

Sonderung im Mantel des Ideals

»Es fehlt den hehren Zielen der Inklusion der Unterbau einer am Menschen orientierten Pädagogik und Heilpädagogik«, ergänzt Eurythmielehrer Klaus Westermann aus der Sicht jahrzehntelanger Kollegiumstätigkeit. »Stattdessen haben wir eine am kindlichen Defekt orientierte, klassifizierende Sonderung, der nun aber der Mantel eines abstrakten Ideals gemeinsamer Teilhabe umgehängt werden soll – ohne in einer gemeinschaftlichen Bemühung zu versuchen, die jeweils beste Förderung des individuellen Kindes zu finden. Die Durchführung droht frühzeitig an den oft willkürlichen Zielvorgaben inklusiver Sonderregelungen zu ersticken. Eltern, Lehrer und nicht zuletzt die Schüler werden allein gelassen oder mit bürokratischen Hürdenläufen belastet.«

Schaut man sich den Stand der erziehungswissenschaftlichen Diskussion und den politischen Entscheidungswillen hinsichtlich der Zukunft der Förderschulen an, drängt sich ein widersprüchliches Bild auf: Einerseits werden die Schulen auf Leistung getrimmt, andererseits geht durch die drohenden oder bereits erfolgten Schließungen zahlreicher Förderschulen Kompetenz verloren. Und es steht die Neuordnung der Ressourcen im Schulsystem an. Unter dem Zeichen der Inklusion sollen bei grundsätzlicher Bestandsgarantie der Schulform Förderschule Mittel aus diesen in die Regelschulen umgelenkt werden, um dort die inklusive Beschulung zu finanzieren. So dreht sich alles um die Ressourcenverteilung, was einer echten inklusiven Pädagogik nur schaden kann.

Literatur:

Die Festschrift zum 30-jährigen Schuljubiläum der Georgschule kann bestellt werden unter: kontakt@georgschule-dortmund.de