Gestaltungsbedarf

Im Jahr 2015 fand erstmals eine umfangreiche Befragung von Waldorfeltern statt; teilgenommen haben 117 Schulen, 3.685 Eltern haben sich beteiligt. Die Ergebnisse sind nun freigegeben, eine wissenschaftliche Publikation ist für 2017 geplant. Wir fragten die Professoren Steffen Koolmann und Lars Petersen von der Alanus Hochschule, die die Studie zusammen mit Petra Ehler durchführten, nach den wichtigsten Erkenntnissen.

Erziehungskunst | Welches Ergebnis hat Sie am meisten überrascht?

Steffen Koolmann | Mich hat am meisten überrascht, dass Waldorfschulen auch in Bezug auf die Zusammensetzung ihrer Elternschaft gesellschaftlich offene Einrichtungen sind. So haben beispielsweise 90 Prozent der Waldorfeltern selbst keine Waldorfschule besucht – und gut 44 Prozent der Schülerinnen und Schüler haben zuvor keinen Waldorfkindergarten besucht. Verbindet man dies noch mit der Anzahl der Schülerinnen und Schüler, die von einer staatlichen Schule an eine Waldorfschule wechseln (knapp ein Drittel) dann entsteht das Bild einer gesellschaftlich höchst gemischten Elternschaft.

Lars Petersen | Ich war beeindruckt von der Kooperationsbereitschaft der Waldorfeltern, die sich nicht nur in einer hohen Rücklaufquote und Datenqualität niedergeschlagen hat, sondern auch inhaltlich in umfangreichen, konstruktiven Rückmeldungen auf die offenen Fragen widerspiegelt. In den Antworten drückt sich zugleich eine Vielfalt von Einstellungen und ein Reichtum an Beiträgen der Eltern zu »ihrer« Waldorfschule aus, die ich als »Außenstehender« so nicht erwartet hätte.

EK | Hat sich das Vorurteil, dass Waldorfschüler aus reichen Elternhäusern kommen, bestätigt?

LP | Nein, dieses Vorurteil ist auf der Grundlage der erhobenen Haushaltsnettoeinkommen klar widerlegt. Im Vergleich mit dem Bundesdurchschnitt sind Waldorfeltern-Haushalte je nach Zusammensetzung und Größe teilweise sogar einkommensschwächer.

EK | Aus welchen Einkommensschichten und Berufen kommen Waldorfeltern hauptsächlich?

LP | Erstaunlicherweise ist die Einkommensverteilung dem Bevölkerungsquerschnitt sehr ähnlich, obwohl Waldorfeltern zu einem überdurchschnittlichen Anteil Berufe auf hohem Qualifikationsniveau ausüben. Dass sich dies nicht allgemein auch in ein höheres Einkommensniveau übersetzt, könnte daran liegen, dass es sich großenteils um Berufe handelt, deren »Lohn« nicht nur in Geld, sondern auch in ideeller Bereicherung besteht.

EK | Gibt es ein Nord-Süd- bzw. Ost-Westgefälle?

LP | In Bezug auf die Haushaltsnettoeinkommen kann man sehr wohl ein Gefälle von West nach Ost feststellen. Die Unter­- schiede von Nord nach Süd sind dagegen nicht signifikant.

EK | Was ist das Hauptmotiv der Eltern, ihre Kinder an eine Waldorfschule zu schicken?

LP | Als wichtigste Anforderungen an eine gute Schule sehen die Waldorfeltern das angstfreie Lernen, ein angenehmes menschliches Miteinander, sowie den ganzheitlichen Bildungsanspruch, also das Lernen mit »Kopf, Herz und Hand«. Auch Wechsler von staatlichen Schulen schätzen ausdrücklich die besondere Pädagogik mit anderen Schwerpunkten.

Dagegen rangieren die Leistungsorientierung und die gezielte Förderung leistungsstarker Schülerinnen und Schüler in der bekundeten Wichtigkeit auf den letzten Plätzen. Interessant ist aber auch, dass die Eltern die Möglichkeit, einen staatlich anerkannten Schulabschluss zu erreichen, als ausgesprochen wichtig empfinden, während das Angebot eines Waldorfschulabschlusses nach der 12. Klasse von relativ geringer Bedeutung ist.

EK | Wie sehen die Bildungshintergründe der Eltern aus?

LP | Waldorfeltern haben ein überdurchschnittlich hohes Bildungsniveau im Vergleich zum Bevölkerungsquerschnitt. Signifikant ist der hohe Anteil der Eltern mit einem abgeschlossenen Studium oder zumindest allgemeiner Hochschulreife. Nur etwa jeder Zehnte hat übrigens selbst eine Waldorfschule besucht.

EK | Gibt es einen einenden Wertekodex bei den Eltern?

LP | Das wäre mit Sicherheit zu viel gesagt. Die Waldorfeltern sind keine »eingeschworene Gemeinde«, sondern bilden ein breites Spektrum an Einstellungen und Meinungen ab, wozu übrigens auch gehört, dass fast ein Drittel der Waldorfeltern der Anthroposophie neutral oder sogar eher kritisch gegenüberstehen. Auffällig ist aber dennoch die beeindruckende Mehrheit der Waldorfeltern (über 70 %), die – im Sinne einer in der Soziologie verbreiteten Einteilung – postmaterialis­tische Werte verinnerlicht haben, gegenüber denjenigen (weniger als 2 %) mit materialistischen Wertvorstellungen.

EK | Welches Leistungsverständnis haben Waldorfeltern?

SK | Der aktuelle Stand der Auswertungen lässt aus den Antworten der Eltern zu unseren Fragen noch kein eindeutiges Leistungsverständnis erkennen. Wir können aber bereits jetzt sehr wohl etwas zu ihren Erwartungen sagen, die sich aus ihren Motiven heraus ergeben. Demnach ist ihnen zum Beispiel äußerst wichtig, dass die Schule einen staatlich anerkannten Abschluss anbietet (83,5 %), die Schule angstfreies Lernen ermöglicht (84,1 %) und dass die Lehrer gute Vorbilder für die Schülerinnen und Schüler sind (72,1 %).

EK | Fühlen sich die Eltern als Mitgestalter »ihrer« Schule?

SK | Etwas mehr als die Hälfte der Eltern fühlen sich als Mitgestalter »ihrer« Schule – so ihre Antwort auf diese konkret gestellte Frage. Wir schließen daraus, dass  Elternmitarbeit an Waldorfschulen positiv konnotiert ist. Dieser Schluss leitet sich auch daraus ab, dass lediglich knapp 6 % der Eltern es besser fänden, wenn es keine Elternmitarbeit an »ihrer« Schule gäbe.

EK | Wie viele Schüler sind Quereinsteiger – was sagt dies aus?

SK | Fast ein Drittel aller Eltern an Waldorfschulen haben mindestens ein Schulkind, das zuvor eine staatliche Schule besucht hat. Das zeigt, dass Waldorfschulen offene Einrichtungen sind und eine hohe Bereitschaft haben, Schülerinnen und Schüler aus öffentlichen Schulen aufzunehmen, wenn der Wunsch nach einem Wechsel besteht und entsprechende Kapazitäten vorhanden sind.

EK | Wie ist das Verhältnis der Eltern zur Anthroposophie?

SK | Eltern haben ein durchaus differenziertes Verhältnis zur Anthroposophie. Knapp 12 Prozent geben an, dass sie sich im Bereich der Anthroposophie engagieren oder sie konkret praktizieren und gut 56 Prozent stehen ihr positiv bejahend gegenüber; etwa 26 Prozent stehen ihr indifferent oder neutral gegenüber und etwa 5 Prozent kritisch oder skeptisch. Deutlich wird dabei auch: Ich muss kein Anthroposoph sein, um Elternteil an einer Waldorfschule zu sein.

EK | Wie bewerten die Eltern das Entwicklungspotenzial der Waldorfschulen?

SK | Auf die Frage »Wie sehen Sie das? Ist ihre Waldorfschule gut auf die Zukunft vorbereitet?« antwortete die Mehrheit der Eltern (62,5 %) mit »eher ja«, 14,4 Prozent mit »definitiv ja«; skeptisch sehen das 20,1 Prozent (»eher nein«) und für 3 Prozent der Eltern ist da definitiv kein Entwicklungspotenzial zu sehen. Das heißt, dass an Waldorfschulen mit Blick auf ihre zukünftige Entwicklung weiterer und innovativer Gestaltungbedarf gesehen wird; ein wichtiger Hinweis aus der Studie für die Waldorfschulbewegung.

EK | Was sind die stärksten Kritikpunkte der Eltern?

SK | Eltern üben bei offenen Fragen sehr feinfühlig und konstruktiv Kritik, zum Beispiel, dass als – zum Teil auch stark – verbesserungsbedürftig angesehen werden von 53 Prozent der Eltern eine regelmäßige Evaluation des Unterrichtes, von etwa 44 Prozent ein konstruktiver Umgang der Lehrkräfte mit Kritik, von 40,5 Prozent die Aufgeschlossenheit der Lehrkräfte gegenüber Neuem und 36 Prozent in Bezug auf den Informationsfluss in pädagogischen Belangen.

Die Fragen stellte Mathias Maurer.