Gestrandet: zwei Ukrainer in Prien

Petra Plützer

»Erziehung zur Freiheit« ist in der kriegsgebeutelten Ukraine mehr als ein Slogan. Die Waldorfschulen erleben seit dem Aufstand auf dem Majdan vor eineinhalb Jahren einen großen Zulauf: Zwei neue Schulen starteten in diesem Herbst. Die vier bestehenden platzen aus allen Nähten. »Wir haben dort gelernt, unsere Meinung zu sagen und dazu zu stehen«, äußert der ehemalige Waldorfschüler und Student Adrian Lutsenko.

Vor einem halben Jahr kam er nach Prien am Chiemsee, um sein Deutsch als Au-Pair-Junge zu verbessern. Er nahm dafür ein Urlaubssemester. Doch zurück kann er jetzt nicht mehr. Der Brief erreichte ihn in Deutschland: Er wurde exmatrikuliert. Zurück in der Heimat würde er jetzt sofort zum Militär eingezogen. »Die Regierung rekrutiert alle Männer, die nicht Studenten sind. Denn unser Militär ist zu klein für die Präsenz der Russen an den Grenzen«, erzählt er. Die Erfahrung der Krim-Annexion sitzt tief. Und der Waffenstillstand im Kriegsgebiet Donbass erscheint nach wie vor brüchig. »Ich habe meinen Professoren jedenfalls zu wenige Weihnachtsgeschenke gemacht«, sagt Adrian bitter. »Das hat sich jetzt gerächt.«

Sechsmal fiel er allein durch eine Prüfung, weil er sich weigerte, Schmiergeld zu zahlen. »Es hat sich nichts geändert im ukrainischen Alltag seit unserer Revolution auf dem Majdan. Denn die Politiker sind immer noch dieselben«, sagt der 19-Jährige.

Dieter Hornemann, Pfarrer der Priener Christengemeinschaft, setzte sich für den jungen Mann ein, den er schon seit seiner Kindheit kennt, und besorgte ihm eine Lehrstelle als Schreiner. So wird Adrian vorerst in Deutschland bleiben. »Dabei liegt die Hoffnung für dieses Land auf diesen jungen Menschen«, sagt Hornemann. »Ihre Erziehung zur Freiheit ist der entscheidende Keim für eine demokratische Zukunft«.

Seit über 20 Jahren bietet er in jedem Sommer Ferienfreizeiten in der Ukraine an, begleitet den Aufbau von Gemeinden, hält Vorträge und Kontakt zu den Waldorfschulen. Während der Zeit der Revolution stand er bei seinen Besuchen selber mit auf dem Majdan. »In der Ukraine sind die Menschen aufgewacht«, sagt Hornemann. Es sei die schmale Mittelschicht, die Intelligenz, die diese Bewegung anführe und sich gegen Korruption auflehne. Man habe erleben können, dass Unendliches möglich ist, wenn Menschen aus sich heraus handeln. »Die Menschen werden Zeit brauchen«, sagt Hornemann. »Sie kennen nichts anderes als Diktatur. Die Sehnsucht nach dem guten Zaren ist groß.« Ihr Schicksal selber in die Hand zu nehmen erscheine vielen als eine Überforderung.

Die Waldorfpädagogik erfährt seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sehr viel Zuspruch. Viele Menschen sagen: Das ist das, was wir gesucht haben. Im Jahr 2000 hat die Vereinigung der ukrainischen Waldorfschulen gemeinsam mit dem Staatsministerium das »Experiment zur Integration der Waldorfpädagogik in das ukrainische Bildungssystem« vereinbart.

Mit dieser Ausnahmegenehmigung war es möglich, neben dem strikten staatlichen System mit seinem zentralen Curriculum eine Bildungsalternative aufzubauen, die sich immer mehr erweitert. »Für die Entwicklung der Waldorfpädagogik ist es vielleicht am besten, wenn sie mit Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Dann ergreifen die Menschen sie am innigsten«, sagt die 22-jährige Nastia Mazur, Absolventin der Sophia-Waldorfschule in Kiew und derzeit ebenfalls als Au-Pair in Prien. Im letzten Jahr war sie bereits als Praktikantin an der Priener Waldorfschule zu Gast. Die Sophia-Waldorfschule in Kiew zog vor einiger Zeit in den ersten Stock eines staatlichen Schulgebäudes. »Der Unterschied zwischen uns Schülern in den verschiedenen Stockwerken war und ist augenfällig«, sagt Nastia. »Wir sagen immer: Aus dem staatlichen Schulsystem kommen alle quadratisch raus.« In der Waldorfschule dagegen entstünden viele verschiedene bunte Formen. Ab Herbst möchte Nastia das Priester-Seminar der Christengemeinschaft in Stuttgart besuchen. Anthroposophie soll ihr Lebensmittelpunkt bleiben. Zurück in die Heimat? »Das wäre schön«, sagen beide jungen Leute. »Der Krieg und auch die Korruption dort sind keine Lösung für unser Land.«

Zur Autorin: Petra Plützer ist freie Journalistin und Referentin für Öffentlichkeitsarbeit.