»Ich bin das größte Hindernis«. Inklusionskongress in Berlin

Mathias Maurer

Zehn Prozent der Weltbevölkerung lebt mit einer Behinderung. Die UN-Behindertenkonvention läutete einen Paradigmenwechsel im Bildungswesen ein, dessen Tragweite noch nicht abzusehen ist. Denn die Konvention markiert die umwelt- und einstellungsbedingten Faktoren von Behinderung als die eigentliche Behinderung, die überwunden werden müsse, so Johannes Denger vom Verband für anthroposophische Heilpädagogik. In ihr realisierten sich die drei gesellschaftlichen Ideale Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in Form von Autonomie, Barrierefreiheit und voller Teilhabe. Inklusion setze Begegnungsfähigkeit voraus. Wenn eine Begegnung mit dem »Du« nicht möglich sei, beraube sich der Mensch der Erfahrung, wie am jeweiligen Gegenüber das Urbild des Menschlichen aufleuchte. »Ich bin dabei das größte Hindernis«, kann man Florian Osswald von der Pägagogischen Sektion am Goetheanum ergänzend zitieren.

Auf den Paradigmenwechsel nicht vorbereitet

Die »Botschafterin der Integration« und Begründerin des Jakob-Muth-Preises, die Erziehungswissenschaftlerin Jutta Schöler, setzte in ihrem Eröffnungsvortrag eine Zielmarke: Gelungene Inklusion heißt, wenn man nicht mehr darüber spricht. Sie prognostiziert: In dreißig Jahren werde es keine Sonderschule mehr geben. Schulen und Verwaltung seien aber auf diesen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel nicht vorbereitet und momentan überfordert. Die Pädagogen hätten Bedarf an Fortbildung und Beratung, auf den der Bund der Freien Waldorfschulen mit einem entsprechenden Angebot reagieren sollte. Sämtliche Therapien sollten innerhalb der Lerngruppe angewandt werden, um die Schüler nicht voneinander zu separieren. Schöler wies darauf hin, dass laut Heilmittelverordnung § 11 (Häusliche Krankenpflege) seit Januar 2011 alle von Ärzten verschriebenen Therapien auch in Kindergärten oder Schulen angeboten werden können und von den Kassen erstattet werden müssen.

Ohne Elternmitarbeit geht nichts

Das Elternforum zeigte: Es sind viele Fragen offen. Noch vor wenigen Jahren haben viele Regel-Waldorfschulen die Aufnahme von behinderten Schülern abgelehnt. Nur in Ausnahmefällen kam es zu Sonderregelungen. Der Wind hat sich inzwischen gedreht. Die Behinderung eines Kindes darf heute nicht mehr ein Abweisungsgrund sein. Umgekehrt sind auch Sonderschulen aufgefordert, ihre Türen für nicht behinderte Kinder zu öffnen. Bei der Umgestaltung zu einer inklusiven Schule werde die Kompetenz der »heimlichen Therapeuten«, wie die Eltern von behinderten Kindern bezeichnet werden, dringend gebraucht, sonst seien die Lehrer schnell überfordert.

Eine weitere Problemzone: Bisher entwickelten sich inklusive Schulkonzepte aus Inklusionsarbeitskreisen, die überwiegend von Eltern besetzt sind. Deren Vorschläge stießen aber nicht immer auf offene Ohren bei den Lehrern, die sich in ihrer »pädagogischen Autonomie« eingeengt fühlten. Fazit: Ohne praktizierte Erziehungspartnerschaft funktioniert Inklusion nicht.

Wie können gemeinsame Lernziele aussehen?

Unsicher sind die Eltern auch beim Thema Lernziele. Spätestens ab der vierten oder fünften Klasse kann die Leistungsschere bei den Kindern weit auseinander gehen – trotz aller Bemühungen der Lehrer durch Binnendifferenzierung dieser Entwicklung entgegenzusteuern. Spätestens bei den staatlichen Abschlüssen beginnt die Inklusion zu erodieren. Jahresarbeiten, Klassenfahrten, Waldorfabschlüsse in Kunst oder Eurythmie stellen dagegen kein Inklusionshindernis dar. Das zeigte zum Beispiel das Eurythmie-Projekt »Inkludo« von Sabine Brüggemann: Wenn Behinderte und Nichtbehinderte sich gemeinsam in perfekter Harmonie auf der Bühne bewegen, geht das dem Zuschauer unter die Haut.

Schicksals- und Selbsterkenntnis werden zur Grundlage

Michaela Glöckler, Leiterin der Medizinischen Sektion am Goetheanum, führte aus, wie die Inklusion von Anfang an in der Waldorfschule angelegt war und wie sie in den 1930er Jahren von Karl Schubert praktiziert wurde. Kein Kind wurde abgewiesen. Der Schule drohte die Schließung und den Kindern das Euthanasieprogramm der Nazis. Schubert musste die Schule mit seiner Klasse verlassen. Die gegenwärtige Inklusionsdebatte legt nahe, wieder an seinen Impuls innerhalb der »Mutterschule« anzuknüpfen. Glöckler sprach von Chancen und Risiken der Inklusion. Es reiche nicht, wenn die zu fördernden Kinder nur eine nette Beigabe seien. Um sich einen individuellen Blick auf jedes einzelne Kind zu erwerben, bedürfe es einer energischen inneren Schulung des Lehrers. Behindert oder nicht – ohne eine anthroposophisch vertiefte Schicksals- und Selbsterkenntnis, zu der Rudolf Steiner in seinen Werken zahlreiche Übungen und Anregungen gibt, könne ein Waldorflehrer nicht unterrichten.

Jugendforum erfrischend offen

Im Jugendforum herrschte zum Thema Inklusion nicht professionelle Ratlosigkeit oder Hektik, sondern erfrischende Gewissheit, dass es eigentlich kein Problem ist, in Schule und Zuhause zusammenzuleben. Behinderte, ihre Geschwister und Mitschüler kamen zu Wort. »Wir kennen es nicht anders und das ist für uns normal«, so die einhellige Meinung der Schüler. Sie schätzen die Offenheit und Kontaktfreudigkeit ihrer behinderten Klassenkameraden und diese wiederum die Geduld, die ihnen entgegengebracht wird. Gemobbt wird wie in jeder anderen Schule auch, aber richtig gemobbt nur draußen auf der Straße.

Diesen Eindruck bestätigt der Jurist und ehemalige Kinderbeauftragte Reinald Eichholz, für den Voraussetzung gelingender Inklusion das selbstverständliche »Zugehörigkeitsgefühl« ist. Markus, ehemaliger Schüler der Inklusiven Waldorfschule Emmendingen, profitierte sichtbar davon: »Ich bin stolz auf mich«, schloss er seinen Beitrag.

Landesweite Inklusionsberatungen: Hessen macht es vor

Regionaltreffen boten Gelegenheit, sich kennenzulernen, Informationen auszutauschen und Fragen der Umsetzung, Genehmigung und Finanzierung zu erörtern. Wünschenswert wäre es, dass alle Landesarbeitsgemeinschaften Inklusionsberatungen anbieten, wie es in Hessen bereits praktiziert wird. Um aus dem »Diagnose-Ressourcen-Dilemma« der Einzelfälle herauszukommen, sollten sich die Waldorfschulen generell als inklusive Schulen anerkennen lassen und sich für eine einrichtungsgebundene Bezuschussung stark machen. Dann wäre auch Schluss mit dem gegenwärtigen Flickenteppich von Zuschüssen.

* * *

Hinweis

Im (gedruckten) Heft 11/2013 der Erziehungskunst (S. 41) sowie im Jahresberichtsheft 2013 des Bundes der Freien Waldorfschulen (S. 10) findet sich in den Berichten von Mathias Maurer zum Inklusionskongress der Passus, Johannes Denger habe in seinem Vortrag ausgeführt, ... »wie am missgebildeten Mitmenschen das Urbild des Menschlichen aufleuchte.« Diese Formulierung ist kein Zitat des Vortragenden, sondern eine Formulierung des Berichterstatters, die durch die verkürzte Darstellung eines komplexen Gedankenganges missverständlich wirken kann.

Für Interessierte hier der Zusammenhang im Wortlaut:

Vortragsauszug*:

»Rudolf Steiner formuliert in diesem Zusammenhang im ›Heilpädagogischen Kurs‹ Folgendes: ›Goethe sah mit einer besonderen Freude hin auf dasjenige, was bei Pflanzen an Missbildungen entsteht, wo irgendein Organ an der Pflanze, das man gewohnt ist, sonst in einer bestimmten sogenannten normalen Form zu finden, entweder mit der Größe über die Norm hinauswächst, oder wie es sich abnorm gliedert, wie es zuweilen sogar Organe heraustreibt, die normalerweise an einer anderen Stelle stehen und so weiter. Gerade darin, dass sich die Pflanze in solchen Missbildungen äußern kann, sieht Goethe die besten Anhaltspunkte, um auf die eigentliche Idee der Urpflanze zu kommen. Denn er weiß, dass sich dasjenige, was hinter der Pflanze als Idee steckt, gerade in solchen Missbildungen besonders zeigt...‹

Nehmen Sie die Problematik des Begriffes Missbildung einmal ein bisschen zurück, dann verstehen Sie, was hier gemeint ist. Goethe macht darauf aufmerksam: gerade da, wo etwas sich aus der Regel hinausbewegt, werde ich aufmerksam auf das, was das Eigentliche ist, was die Pflanze ausmacht. Und Steiner führt es dann zwar nicht explizit aus, bietet es aber an, hier nun die Entsprechung zum Menschen zu suchen, indem er fortfährt: ›Und so ist es im Grunde genommen bei allem Lebenden, auch bei den im Geiste Lebenden. Wir kommen immer mehr darauf, dass dasjenige, was auch hinter dem Menschengeschlecht lebt und sich in Abnormitäten äußert, dass das die eigentliche Geistigkeit im Menschengeschlecht nach außen offenbart.‹ Und dann noch deutlicher am Ende des 4. Vortrags: ›... wenn ein abnormes Symptom auftritt, so ist etwas da, das, geistig angesehen, näher dem Geistigen steht als dasjenige, was der Mensch in seinem gesunden Organismus tut.‹ In diesem Zusammenhang nennt er dann die Menschen mit Behinderung auch ›die eigentlich göttlichen Menschen‹. Und wir verstehen, dass das völlig unsentimental gemeint ist. Die Menschen, an denen das, was uns alle bildet, die Bildeprinzipien, nach denen wir entstanden sind, besonders deutlich zum Ausdruck kommen und die das ins Bild bringen, was eben Menschengestalt, Menschengestaltung überhaupt ausmacht.

Wenn wir nun an eine Metamorphose des Menschen denken, dann kommt allerdings ein weiteres dazu. Bei der Pflanze ist es so, dass sie ›das Fortgehen ins Unendliche‹ ausmacht. Immer wieder Wachstum, immer wieder Zusammenziehung und Ausbreitung, während beim Menschen der individuelle Tod dazwischen tritt. Also die Metamorphose des Menschen, wie Rudolf Steiner sie etwa in den berühmten ›Brücke-Vorträgen‹ schildert, bedingt diesen Nullpunkt, das Dazwischen, den Abgrund und den Tod. Das macht das Spezifische der menschlichen Metamorphose aus.

Diese Idee von Rudolf Steiner, die Metamorphose der Pflanze mit dem Menschen in Beziehung zu setzen, lässt mich nun aussprechen: Menschen die etwas besonders deutlich zeigen von diesen Gestaltungsprinzipien, indem sie eine bestimmte Einseitigkeit haben, führen uns eigentlich den Urmenschen vor Augen, den Menschen an sich. Ich meine das überhaupt nicht theoretisch, sondern ganz konkret, denn wenn Sie einmal überlegen, wie war meine letzte Begegnung mit einem Menschen mit einer vielleicht schweren körperlichen Behinderung oder eben auch einer geistigen Behinderung, dann ist es – jedenfalls bei mir – immer so, dass ich existentiell berührt werde durch diese Begegnung und dass sie unvergessen bleibt.«

* Der gesamte Vortrag wird bearbeitet in einem Sammelband zum Kongress erscheinen.