Ich denke immer noch oft Charascho. Deutsch-russischer Schüleraustausch

Katharina Wüstefeld

Im Alltag konnten die Coburger Schüler Russisch bisher kaum anwenden. Die Gefühle waren gemischt: Freude, aber auch Bedenken, ob man sich ausreichend verständigen könne. Immerhin sollten die Schüler zwei Wochen bei Gastfamilien untergebracht werden, die kein oder kaum Deutsch sprechen. Und auch manche Familien hatten Bedenken, ob es aufgrund der politischen Lage vernünftig sei, ihre Kinder nach Russland reisen zu lassen.

Dennoch: Der Flug geht von München nach Moskau und von dort nach Woronesch, einer Millionenstadt, 2.302 Kilometer von Coburg entfernt. Am dortigen Flughafen werden die Schüler von ihren Gasteltern abgeholt. Da diese ungewohnt schnell sprechen, kommt es zu manchen Verständigungsschwierigkeiten. Lennarts Gastmutter bemerkt es und spricht langsamer. Die 17-jährige Franziska kommt zu einer Familie mit drei Kindern. Die Wohnung ist schön, aber recht klein, die Schülerin muss sich mit den Kindern ein Zimmer teilen. Die Schüler waren vorher darüber informiert worden, dass die Wohnbedingungen bescheiden sein würden. Franziska wusste schon von Berichten, dass ein Schüler mal auf einem Feldbett im Flur geschlafen hatte. Deshalb ist sie mit der Lösung, ein Zimmer zu teilen, vollkommen einverstanden. Ruhe hat man in der Wohnung wenig, außer im Badezimmer, aber sie wird sofort als Gasttochter ins Herz geschlossen und es wird ganz selbstverständlich zusammengerückt – auch wenn noch die kranke Oma dazukommt.

Die Coburger Jugendlichen werden mit großer Freude und einem Fest in der Waldorfschule empfangen, in die Klassen verteilt und nehmen am Unterricht teil. An den ersten zwei Tagen müssen sie sich vor allem sprachlich akklimatisieren. Aus der Frage: »Was habe ich eigentlich in den letzen Jahren gelernt?«, wird ein »Es geht doch.« Und von Tag zu Tag können die Schüler ihre Sprachkenntnisse verbessern.

Die Gastfamilien sind sehr bemüht, den Aufenthalt ihrer Schützlinge so angenehm und schön wie möglich zu gestalten. Gastfreundschaft wird in Russland wirklich groß geschrieben, stellen die Schüler fest. Lennarts Gastschwester begleitet ihn zum Beispiel immer in die Stadt, da die »Marschrutkas«, Kleinbus-Sammeltaxis, oft überfüllt und die Haltestellen nicht ausgewiesen sind. Mittags wird, wie üblich, in der Schule gegessen. Oft gibt es Eintopf oder eine Vielzahl an Gerichten aus Buchweizen, zum Beispiel Buchweizengrütze, Buchweizensuppe ... Überhaupt gibt es viel Suppe, auch mal zum Frühstück, sowie Kascha, einen Brei aus Buchweizen, der mit Butter, Zucker und Milch verfeinert wird und ein Bestandteil des russischen Frühstücks ist. Das entspricht nicht jedermanns Geschmack.

Zusammen unterwegs

Es entstehen schnell Freundschaften, und auf die Frage, ob es große Interessenunterschiede zwischen den Jugendlichen gebe, sagt Lennart: »Die machen den selben Quatsch wie wir.« Einmal geht es abends in ein bayerisches Lokal mit deutschem Bier und bayerischem Essen mitten in Woronesch. Die russischen Freunde berichten, sie gingen öfters dorthin, das Lokal ist beliebt in der Stadt. Ein anderes Mal schauen wir uns im Kino eine russische Liebeskomödie an. Da die Handlung recht klar ist, so Lennart, war das mit dem Verständnis ganz ok. Im Theater hören wir eine Vorlesung von »Tim Thaler« mit musikalischer Begleitung, die von einem jungen Ensemble aus Moskau präsentiert wird. Der Abschied fällt allen gleichermaßen schwer. Mit von den russischen Schülern angefertigten Armbändern und reichlich Verpflegung für die Fahrt ausgestattet, macht sich die Klasse mit einer Zwischenstation in Moskau im Nachtzug auf den Rückweg.

Wenn das Fremde nicht mehr fremd ist

Die Schüler zehren noch nach Wochen vom Russlandaufenthalt. Die Reise und ihre Erfahrungen sind das Gesprächsthema Nr. 1 in der Klasse. »Die gemeinsamen Erlebnisse haben uns noch mehr zusammengeschweißt«, sagt Franziska. Und so manche Tradition kommt mit nach Coburg, wie das Teetrinken, das so mancher nun zelebriert. Auch im Russischunterricht macht sich der Schüleraustausch bemerkbar. Die Hemmschwelle, etwas falsch zu sagen, ist deutlich geschrumpft. Es ist jetzt eine Bereicherung, Russisch anzuwenden.

Die neuen Freundschaften werden hauptsächlich über das russische Facebook Контакты – »in Verbindung« – gepflegt. Als Souvenir haben sich einige Matroschkas mitgebracht. Und: Russland ist jetzt ein spannendes Reiseziel. Es werden Pläne geschmiedet, nächsten Sommer wieder hinzufahren, denn auch die Coburger werden sehr vermisst.

Die Schüler sind trotzdem froh, wieder zu Hause zu sein. Mit veränderter Sichtweise auf die einheimische Natur, Sauberkeit und den Lebensstandard, der zuvor so selbstverständlich schien.

Das Gefühl der Dankbarkeit und Wertschätzung gegenüber dem Leben in Deutschland ist größer geworden. »Wie gut es uns hier geht«, lautet der Tenor. »Ich denke immer noch oft statt ›gut‹ ›Charascho‹ oder ›nje waschno‹ – ›nicht wichtig‹«, sagt Lennart. Und er erzählt von gesteigerter Sprechlust und Gedanken auf Russisch. »Russisch hört sich schön an«, resümiert Franziska.

Schülerstimmen

Zwei Schülerinnen, Lou Leimeister und Carla Schmiedebach, waren letztes Jahr insgesamt sechs Wochen in Russland, also vier Wochen länger als der Rest der Klasse: »In den vier Wochen, die wir noch zu zweit in Russland verbrachten, machten wir bei Zug- und Busfahrten einige sehr eindrückliche Erfahrungen, da wir noch nie mit einem Bus im Matsch stecken geblieben waren und auch die russischen Schlafwagen mit Samowar und Zugbegleiter in jedem Waggon neu für uns waren.«

Ein wirkliches Abenteuer stellte dann unsere zehntägige Kaukasustour dar. Wir wanderten mit der Woronescher Schulgemeinschaft samt Rucksack und Zelt durch das Gebirge und verbrachten anschließend noch drei Tage am Schwarzen Meer. Dort campten wir am Strand, schliefen am Lagerfeuer und gingen nachts schwimmen. Am Morgen wurden wir von den Blasgeräuschen der Delphine geweckt – es war traumhaft schön!

Es folgte eine Woche Moskau als Kontrastprogramm. Dort konnten wir bei einer ehemaligen Schülerin der Coburger Schule wohnen und hatten so unseren privaten Stadtführer. Dadurch, dass wir mit den Studenten unterwegs waren, kamen wir uns nicht nur wie Touristen vor, sondern haben auch bei einem Fahrradtag mitgemacht.

Da wurde eine ganze Straße gesperrt und man konnte sich Fahrräder ausleihen. Oder wir waren in einem Anti-Café, dort bezahlt man die Zeit, die man am Tisch verbringt, spielt Spiele, trinkt Tee oder Kaffee und isst Plätzchen, soviel man will.

In unserer letzten Woche betreuten wir fünf 5. Klassen verschiedener russischer Waldorfschulen bei ihrer Olympiade und dem vorbereitenden Training etwas außerhalb von Woronesch. Insgesamt konnten wir so die Kontraste des Landes erleben – arm/reich, Stadt/Land, aktuelle Technik und alte Sachen.

Fazit: Besonders eindrucksvoll war die Sprache, dass man immer irgendwie zurechtkommt, dass man schnell Kontakt findet und Freundschaften knüpfen kann. Und: »Wie gut es uns doch in Deutschland geht.«

Zur Autorin: Katharina Wüstefeld ist Mitarbeiterin der Öffentlichkeitsarbeit an der Rudolf-Steiner-Schule Coburg.