Im fernen Kaukasus

Anke Riechmann

Über Moskau erreichen wir das 1.500 Kilometer südlich liegende Krasnodar. Wir, das sind 31 Schülerinnen und Schüler in Begleitung des Russischlehrers, der Geographielehrerin und eines Vaters. Am Flughafen nehmen uns Gunter und Lena in Empfang, wie es herzlicher nicht sein kann. Ein Bus steht bereit, wir passen alle so gerade hinein, unsere Koffer werden kurzerhand auf den Rücksitzen gestapelt. Lena sitzt auf einem unbefestigten Höckerchen gleich neben dem Fahrer. Das passt schon.

Die Straßen sind in einem erstaunlich guten Zustand. Das ändert sich zusehends, je näher wir unserem Ziel kommen, einem kleinen Ort am Rande des Kaukasus. Hier, in Samurskaja, haben Gunter und Lena das Projekt »Schule ohne Klassenzimmer« aufgebaut. Es ist ein deutsch-russisches Projekt, das gestützt wird von Miralmas, einem Verein zur Förderung und Entwicklung von pädagogischem Mut. Die Initiative wurde vor einigen Jahren von vier Pädagogen und zwei Ärzten ins Leben gerufen. Auf der Grundlage der Waldorfpädagogik widmet sich die Schule ohne Klassenzimmer Kindern, die nicht in den üblichen erzieherischen Rahmen passen, ohne dass sie Krankheitssymptome aufweisen, die therapiert werden müssten. Musiktherapie, Gartenarbeit und Bergwandern im Kaukasus stehen für diese – in der Regel zwischen zehn und fünfzehn Jahre alten – Jugendlichen im Zentrum kreativen Erfahrungslernens. Im gemeinsamen Leben und Arbeiten – während der dreimonatigen russischen Sommer-Schulferien – erleben sie einen rhythmisierten Tagesablauf, ohne dass sie in einen Schulstundenplan eingebunden werden. Als Alternative zum etablierten Schulsystem soll ihnen durch Erfahrung Wissen vermittelt werden, das ihre Sozialfähigkeit und Kreativität fördert und stärkt. Dies ist in Russland möglich, weil es zwar Schulpflicht, aber keinen Schulzwang gibt. Die Kinder werden dann zu Hause unterrichtet und legen zweimal im Jahr an staatlichen Schulen die den jeweiligen Altersstufen entsprechenden Prüfungen ab.

Arbeiten und Leben ohne deutsche Standards

»Schule ohne Klassenzimmer« – wir wussten schon, dass der Name nicht ganz richtig übersetzt ist, eigentlich muss es »Schule ohne Klassen« heißen. Was das jedoch bedeutet, wird uns erst vor Ort und auch erst im Lauf der zwei Wochen klar. Uns erwartet eine 50 mal 100 Meter große Wiese zum Zelten und ein noch mal so großes Gelände, auf dem gearbeitet wird. Dort wird unter anderem Gemüse angebaut und Holz gelagert. Zwei kleine Gebäude stehen hier. Das eine ist das Zuhause von Gunter und Lena und ihrer neunjährigen Tochter Mira. Das andere Haus ist die »Schule«. Dieses Haus beherbergt den zwölf Quadratmeter großen Klassenraum, der sogar mit einer Tafel ausgestattet ist, einen ebenso großen Raum, den man liebevoll als Wohnzimmer bezeichnen kann, eine fünf Quadratmeter große Küche und einen ebenso großen Durchgangsraum, der als Badezimmer, Wäschekammer, Garderobe und Vorratskammer dient.

Hier, in diesem fünf Quadratmeter großen Durchgangsraum schläft Christof, unser mitgereister Vater, auf seiner Matte, die er jeden Abend ausrollt und jeden Morgen wieder einrollt, zwischen Gummistiefeln, Badelatschen, frischer und schmutziger Wäsche, dem Waschpulver, der Duschkabine und den Kisten voller Obst und Gemüse.

Dagegen muten die Vierpersonenzelte der Schüler recht komfortabel an. Geduscht wird allerdings mit kaltem Wasser und im Freien und auch nur, wenn die Jugendlichen zuvor die große Wassertonne, die auf dem Balken über den Duschen steht, mit Wasser aus dem Brunnen gefüllt haben. Im ganzen Dorf wird noch das Wasser aus den Brunnen geschöpft. Gekocht wird auf einer offenen Feuerstelle, das Holz wird im Wald gesammelt.

Einunddreißig siebzehn- bis achtzehnjährige Deutsche aus gutbürgerlichem Hause reisen in ein anderes Land und nahezu in ein anderes Jahrhundert. Wozu? Den meisten hat sich schon recht bald der Sinn dieser Reise erschlossen. Das Hauptgebäude der Schule war durch einen Kurzschluss abgebrannt. Unser Besuch sollte dazu dienen, es wieder aufzubauen. Doch als wir ankamen, hatten unsere russischen Gastgeber die schlimmsten Schäden schon selbst behoben. So war die 11. Klasse damit beschäftigt, die äußere Hauswand zu streichen und die Werkstatt auszubauen. Kein leichtes Unterfangen, da auch die Werkzeuge deutschen Standards nicht entsprachen. Einige Zeit muss in eine Instandsetzung der Werkzeuge investiert werden. Im Übrigen gibt es genug im Garten und bei der Hausarbeit zu tun. In der offenen Küche wird ununterbrochen Gemüse geputzt und geschnippelt. Für vierzig Personen müssen drei Mahlzeiten pro Tag zubereitet werden – und man isst gut in Russland.

Geographie-Unterricht und Gemüse schnippeln

Wir führen eine Geographie-Epoche durch. Russland ist unser Thema, die physische und Humangeographie dieses großen Landes. Bereits zu Hause in Bremen wurden die Themen vorbereitet, da wir im Flugzeug nur begrenzt Unterrichtsmaterial mitführen konnten und wir auch nicht wussten, was uns vor Ort erwartet. In Gruppen werden jeden Morgen die unterschiedlichen Themen zur Wirtschaft, zur Agrargeographie und zur Länderkunde bearbeitet. Nach einigen Tagen wird uns bewusst, wie merkwürdig es ist, in Russland unsere aus Schulbüchern erlernte Sichtweise auf dieses Land zu erarbeiten. Darum bitten wir die russischen Gäste, die zum Helfen bei der Küchenarbeit gekommen sind, um ein Gespräch über die russische Lebensart und Politik. Dieses Gespräch, an dem sich auch russische Jugendliche beteiligen, ist sehr interessant. Es entsteht eine Völkerverständigung im wahrsten Sinne des Wortes. So wird die Frage diskutiert, wie es sein kann, dass die große Mehrheit der russischen Bevölkerung Putin unterstützt, obwohl öffentliche Demonstrationen verboten sind.

Aus Wiederaufbauhilfe wird Völkerverständigung

Zur Völkerverständigung tragen ebenfalls die Pflege des Kriegerdenkmals und das Gespräch mit einer Russin bei, die aus ihrer Erinnerung an die Zeit berichtet, als die Deutschen im Zweiten Weltkrieg in Samurskaja ein Massaker anrichteten. Die russische Dorfjugend spielt anschließend mit unseren Jungs Fußball und wir tanzen gemeinsam russische Volkstänze. Der Ortsvorsteher in Samurskaja erlebt den glücklichsten Tag seines Lebens. Diese Freude können wir begreifen, wenn wir uns klar machen, dass der größte Teil der Bevölkerung des Ortes sicherlich seit Generationen die Gegend nicht verlassen hat.

Die Völkerverständigung wird fortgesetzt, als wir in der Elektritschka, der russischen Eisenbahn, auf einem Tagesausflug ans Schwarze Meer einem russischen Mütterchen begegnen. Nachdem sie unsere Gruppe längere Zeit interessiert beobachtet hat, fasst sie den Mut, uns anzusprechen und zeigt ganz aufgeregt aus dem Zugfenster heraus. Wir passieren nämlich gerade die Gegend, in der im Zweiten Weltkrieg die Front verlief.

Die Gruppe diskutiert immer wieder über Begriffe wie Freiheit, Freiwilligkeit und Gerechtigkeit. Für Gunter und Lena ist das Prinzip der Freiwilligkeit oberstes Gebot. Niemand solle etwas tun, was er nicht aus freiem Willen heraus möchte. Wir, die begleitenden Erwachsenen, lassen uns auf ein Experiment ein: die Jugend­lichen dürfen selbst entscheiden, ob und wann sie bei den Renovierungsarbeiten, im Garten oder in der Küche helfen möchten. Das ist eine echte Herausforderung. Doch Gunter und Lena bleiben ungebrochen in ihrem Wunsch, und durch viele intensive und herzliche Gespräche wird den jungen Menschen ein wenig klarer, was freies Handeln bedeuten kann.

Im Anschluss dürfen wir noch eine Woche Moskau erleben. Doch das ist eine eigene Geschichte …

Zur Autorin: Anke Riechmann unterrichtet Geographie und Handarbeiten an der Freien Waldorfschule Bremen, Touler Straße.