Nothilfe im afrikanischen Nirgendwo

Mathias Maurer

Täglich kommen Hunderte – einzelne Kinder, viele ehemalige Kindersoldaten, alte Frauen, ganze Clans, im Tross, zu Fuß, auf Lastwagen, völlig erschöpft, krank oder verletzt, traumatisiert, monatelang, jahrelang unterwegs auf der Flucht. Sie fliehen vor Krieg, Hungersnot, Massenvergewaltigungen, blutigen Stammesfehden, die ganze Dörfer auslöschen.

Sie kommen aus Äthiopien, Burundi, Ruanda, Somalia, dem Kongo und dem Südsudan. Manche fliehen auch, weil globale Spekulationen nach der letzten Dürrekatastrophe den Hirsepreis so in die Höhe trieben, dass er für die Menschen dort unbezahlbar wurde.

Malblätter wie Schleifpapier

Morgens beginnt der Wind, steigert sich zum Sandsturm. Er legt sich am Nachmittag ebenso schnell, wie er gekommen ist, und das Papier, auf dem die im Kreis sitzenden Kinder bunte Aquarelle malen, fühlt sich danach wie Schleifpapier an. Die Kinder im Empfangszentrum nehmen an einem Programm der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners teil. Die »Freunde« sind mit ihrem Team im April diesen Jahres zum zweiten Mal in Kakuma und helfen zusammen mit Lehrern von der  Nairobi Waldorf School durch therapeutische Maßnahmen und erlebnispädagogische Spiele Kindern und Erwachsenen, ihre traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten.

Jamila aus dem Kongo ist acht Jahre und kam mit ihrer schwangeren Tante ins Lager. Vor ihren Augen wurden ihre Eltern umgebracht, sie und ihre Tante vergewaltigt. Seither ist sie stumm. Nach kunsttherapeutischen Einzelmaßnahmen, bei denen sie lernt, das Erlebte nonverbal auszudrücken, findet sie wieder zur Sprache zurück. Doch dann ist sie spurlos verschwunden, wird gesucht, gefunden – und ist bis heute verstummt. Kein Kind darf mehr aus den Augen verloren werden.

Einsatzleiter Bernd Ruf berichtet, dass ihre Hilfe nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein kann. Das Flüchtlingswerk der UN (UNHCR) bräuchte 26 Mio. Dollar im Jahr, nur um das Lager zu erhalten, zu Beginn des Jahres stehen aber nur 12 Mio. zur Verfügung. Die Verhältnisse sind unvorstellbar. Die HIV-Rate ist extrem hoch, die Malaria grassiert, es gibt ein Krankenhaus und sechs Notfallstationen, ein paar Ärzte, aber keinen Frauenarzt oder Chirurgen. Viele träumen von einem »Resettlementpaper«, das ihnen die Aussiedlung in die USA ermöglicht und das auf dem Schwarzmarkt 5.000 Dollar kostet. Die meisten wollen hier raus, weil sie im Lager keine Perspektive haben – obwohl sie wissen, dass das Lager eine Rettung für sie ist. Alles, jede Wasserflasche muss eingeflogen werden, die Korruption und der Schwarzmarkt florieren. Die Flüchtlinge dürfen zwar arbeiten, aber nur ein Taschengeld verdienen, da sie von der UNHCR Unterkunft, Verpflegung und Medizin gestellt bekommen. Viele hängen herum. Alkohol, Drogen, Frauen, Waffen, Benzin und Lebensmittel – mit allem wird gehandelt – auch mit Kindern als Arbeitssklaven. Die Überfälle rivalisierender Stämme werden vom Lager aus organisiert, die Kinder und Männer getötet, die Viehherden vertrieben, Häuser geplündert und angesteckt. Die Fehden setzen sich im Lager fort – ein jugendlicher Sudanese wurde unlängst hier getötet. Zum Glück haben die Stammesältesten auch im Lager das Sagen, denn sie werden von allen respektiert.

Ab 18 Uhr ist Ausgangssperre, später sind die Mitglieder der internationalen Hilfsorganisationen (NGOs) nur noch mit Begleitschutz unterwegs. Der UNHCR-Bereich mit den Unterkünften der NGOs liegt außerhalb des Lagers und ist hermetisch abgeriegelt; dann das eigentliche Flüchtlings­lager, das sich in mehreren Blocks reißbrettartig über 18 Kilometer ausbreitet, die »Protection-Area«, in dem Flüchtlinge wohnen, die Bedrohungen ausgesetzt sind und geschützt werden müssen und das »Reception Centre«, in dem die Neuankömmlinge registriert werden.

Im Reigen durch das Lager

Ein Gong ertönt. Es wird gesungen. Eine bunte Schar von Kindern zieht durch das Lager. Sie klatschen, stampfen und springen, manche scheu und neugierig beobachtend, die meisten ausgelassen und fröhlich. Sie werden von einem 14-köpfigen Team der »Freunde« angeleitet und betreut, das hier mit vor Ort geschultem Fachpersonal im Einsatz ist.

Sie machen Geschicklichkeitsspiele mit Bällen, Reifen und großen Tüchern, nähen, häkeln mit Fingern, malen und basteln. Im Team sind Heileurythmisten, Sprachgestalter, Lehrer, Ärzte und Heilpädagogen aus dem In- und Ausland; sie leisten Supervisionsarbeit und Krisenintervention, schulen die Mitarbeiter in waldorf- und erlebnispädagogischen Methoden und arbeiten deren eigene traumatische Erfahrungen auf, führen Einzelsitzungen von Traumatherapie bis Rhythmische Massage durch, vermitteln medizinische Hilfe und halten Kontakt zu UNHCR-Stellen und den inländischen Kollegen. Das internationale notfallpädagogische Team der »Freunde«, das in den letzten Jahren in vielen Katastrophengebieten weltweit im Einsatz war, bildet inzwischen ein internationales Team von Menschen aus Brasilien, Argentinien, Kolumbien und Deutschland.

Kristina Manz von den Freunden der Erziehungskunst ist gerade mit einem deutsch-kenianischen Team auf ihrem dritten Einsatz in Kakuma. Es ist Regenzeit und alles steht unter Wasser. Sie betreuen die traumapädagogische Arbeit des im Januar errichteten Kinderzentrums und besuchen den ebenfalls von ihnen aufgebauten Kindergarten mit 90 Kindern. Im August wird ein »Child Friendly Space« in der »Protection Area« folgen. Im Lager gibt es 18 Schulen, die von der lutherischen Weltkirche betrieben werden und völlig überfüllt sind. Bis zu 250 Kinder sitzen mit einem Lehrer dichtgedrängt in einer Klasse. Etwa ein Drittel aller Kinder des Lagers kann eine Schule besuchen. Es gibt keine »öffentlichen« Kindergärten, außer einer Handvoll privater Einrichtungen, die Beiträge erheben, die sich kaum einer leisten kann. Für Kinder unter fünf Jahren gibt es keinerlei Angebote. Der neue Kindergarten ist speziell für die Altersgruppe der Drei- bis Fünfjährigen eingerichtet worden.

Die »Freunde« machen Unmögliches möglich; sie arbeiten mit, die menschengemachte Unmenschlichkeit ein Stück menschlicher zu machen. Sie versuchen, den Kindern ein Stück ihrer Kindheit wiederzugeben. Kakuma erlöst die Menschen von der Angst, nachts aus dem Haus gezerrt, getötet oder vergewaltigt zu werden, zu dem Preis im Nirgendwo zu landen. Kakuma ist ein Gewürz, das nicht auf der Zunge, sondern auf der Seele der Menschheit brennt.

Link: www.freunde-waldorf.de/notfallpaedagogik.html