Praktikum in Ci-Xin. Waldorfpädagogik in Taiwan

Ning Huang

Die erste Waldorfschule in Taiwan ist Ci-Xin. Sie wurde im Jahr 1999 gegründet, ist seit 2002 als staatliche Schule anerkannt und wird aus öffentlichen Mitteln finanziell unterstützt. Als die Schule noch privat war, musste jeder Schüler rund 4.000 Euro im Jahr zahlen. Außerhalb des Kindergartens gibt es zur Zeit 25 Klassen, von der ersten bis zur zwölften. Die ersten vier Klassen sind sogar schon dreizügig, von der fünften bis zur neunten sind es zwei Züge, und jeweils zweizügig sind die zehnte, elfte und zwölfte Klasse. Außerdem gibt es noch etwas mehr als hundert Schüler, die auf der Warteliste stehen. Etwa sechzig Lehrer arbeiten hier, dazu Verwaltungspersonal.

Warum schicken die Eltern in Taiwan ihre Kinder auf Waldorfschulen?

2012 gibt es fünf Waldorfschulen in Taiwan, drei sind staatlich anerkannt und zwei privat organisiert. In Taiwan haben die Eltern, ebenso wie in Japan und Korea, hohe Erwartungen an die Leistungen ihrer Kinder. Es gibt fast nur Wettbewerb und Notendruck, endlose Klausuren und Prüfungen. In staatlichen Schulen leiten die Lehrer die Prüfungen und die Schüler lernen, um bessere Noten in der Prüfung zu erreichen. Die Eltern schicken ihre Kinder hauptsächlich deshalb in die Waldorfschule, weil sie unzufrieden mit den staatlichen Schulen und der Bildungspolitik sind. In der Waldorfpädagogik suchen sie eine alternative Pädagogik für ihre Kinder, damit diese eine glückliche Kindheit genießen können, die frei von Leistungsdruck ist. Sie haben die Idee, die hinter der Waldorfpädagogik steckt, akzeptiert und anerkannt. Da die Waldorfpädagogik ein Konzept aus Deutschland ist, gilt sie als »in« und modern.

Spagat zwischen Internationalität und Lokalität, Ost und West

Durch den Lehrplan versucht die Waldorfschule Ci-Xin den Schülern die westliche und zugleich auch die eigene Kultur zu vermitteln. Im Prinzip passt sich der Lerninhalt und das Lerntempo dem staatlichen Lehrplan an und variiert bei manchen Fächern nach menschenkundlichen Gesichtspunkten, wie zum Beispiel, dass die Lehrer keine Lehrbücher verwenden. Die chinesische Schrift wird schon in der ersten Klasse eingeführt. Drei Beispiele dafür: In den ersten drei Klassen werden die chinesischen Bildzeichen, die Orakelzeichen, vorgestellt. In der vierten Klasse wird neben der nordischen Mythologie auch die chinesische und die Geschichte der Ureinwohner Taiwans gelehrt. Die Schüler lernen Kalligraphie und Tuschemalerei, plastizieren die Chinesische Mauer und die Terakottaarmee. Im Werkunterricht wird viel mit Bambus gearbeitet.

»Danke für die Lehre, Meister«

Die Schüler und die Klassen sind im Vergleich zu Deutschland braver und ruhiger, was stark an der Gesellschaft und der Kultur liegt. Es existiert noch immer die Vorstellung, dass der Lehrer die Rolle der Eltern spielt und respektiert werden muss. Er genießt wie ein Arzt hohes gesellschaftliches Ansehen. Am Ende jedes Unterrichts spricht die ganze Klasse immer folgenden Satz: »Danke für die Lehre, Meister.«

Die Schule liegt – was für taiwanische Verhältnisse ungewöhnlich ist – offen im Gelände ohne Mauer oder Zaun. Für Besucher ist es unmöglich, einen Haupteingang zu finden, weil es keinen gibt. Die Ausstattung der Klassen ist – anders als in Deutschland – viel üppiger und bunter. In jeder Klasse gibt es zum Beispiel einen Wunschbaum, an den die Schüler ihren Jahreswunsch hängen können. Vor Unterrichtsbeginn werden die Handys der Schüler eingesammelt und in ein Körbchen gelegt.

Die Arbeitshefte der Schüler befinden sich unter den Tischen. In der Klasse gibt es eine kleine Bibliothek mit Büchern, die von ihnen ausgeliehen werden können. Der Klassenlehrer isst mittags zusammen mit den Schülern im Klassenzimmer, denn es gibt kein Mittagshaus. Während der Mahlzeit korrigiert der Klassenlehrer die Schüler ständig beim Essen. Vor dem Essen wird ein Gebet gesprochen.

An der Schule gibt es eine inoffizielle Kleiderordnung für Lehrerinnen: kein kurzer Rock, keine engen Kleider und keine Jeans. Jeden Tag gibt es eine 30-minütige »Schlussrunde«, in der der Lehrer zusammen mit den Schülern auf den Tag zurückblickt, Hausaufgaben gibt und ein Schlussgebet gesprochen wird. Auf kleinen Tafeln hinten im Klassenzimmer stehen die täglichen Hausaufgaben für alle Fächer. Es gibt am Tag drei Unterrichtseinheiten mit sechs Unterrichtsstunden (8.30 bis 15 Uhr). Nur der erste Unterricht hat pünktlich begonnen. Die anderen Kurse hatten immer Verspätung, was dort als »normal« angesehen wird.

Ob die Waldorfpädagogik und die anthroposophische Menschenkunde in Fernost tatsächlich verstanden und praktiziert werden können, wird sich noch zeigen und ist Gegenstand der Forschung. Sie bringen auf jeden Fall frischen Wind und eine Reflexion über das existierende Bildungssystem und seine leistungsorientierte Bildungsvorstellung mit sich.

Zur Autorin: Ning Huang ist Assistenzlehrerin im Praxisjahr an der Freien Waldorfschule am Kräherwald in Stuttgart. 2007 bis 2013 unterrichtete sie »Chinesische Sprache und Kultur« sowie »Interkulturelle Kompetenz Chinas« an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg und an der Universität Hohenheim in Stuttgart.