Rosenheim trifft Bethlehem. Das deutsch-palästinensische Musiktheater »Forget the Border«

Claudia Weber

Die Musikpädagogin Sibylle Stier war schon viele Male beruflich in Palästina unterwegs. Während des letzten Aufenthalts und ihrer Arbeit in Flüchtlingslagern lernte sie Rami Khader, den Leiter des Diyar Dance Theatres aus Bethlehem kennen. In den abendlichen Gesprächen entstand die Idee zum Projekt. Als die Rosenheimer Oberstufenschüler davon hörten, waren viele spontan begeistert, ohne wirklich zu wissen, was auf sie zukommen würde. Zwölf Schüler der 9. bis 13. Klasse waren dabei, fünf von ihnen flogen im vergangenen September für ein erstes Treffen mit Sibylle Stier und dem Theaterpädagogen Michael Feuchtmeir nach Bethlehem.

Konfrontiert wurden sie mit der politischen Situation, mit Checkpoints, Mauern, aber auch mit einer ungeheuren Lebensfreude und mit aufgeschlossenen Menschen, die einen auf herzlichste Weise aufnahmen. Diese Austauschprojekte sind für die Jugendlichen in Palästina enorm wichtig, da sie dadurch eine Einladung erhalten, die sie zur Ausreise berechtigt. Für unsere Schüler wiederum ist es eine große Chance, über den eigenen Tellerrand zu schauen.

»Forget the border«

In ersten gemeinsamen improvisatorischen Übungen versuchte man, sich kennenzulernen, zu erleben, wie der andere so »tickt«, ob eine Arbeit in einem solch großen Projekt überhaupt denkbar war. Doch nach nur drei Tagen stand fest: Wir machen das!

»Forget the border«, der Titel des Musiktheaterstücks entstand eher beiläufig, in einem Nebensatz und passte doch sofort. Die Jugendlichen hatten die Idee, in beiden Gruppen ihre jeweils wichtigsten biografischen Erfahrungen szenisch umzusetzen, um sie dann am Ende zu einem gemeinsamen Musiktheaterstück zusammenzufügen – eine große Aufgabe, an die sie mit Phantasie, Einfallsreichtum und Engagement herangingen. Viele unterschiedliche Musikstile wurden aufgenommen: Lieder aus unterschiedlichen Musicals, aber auch tiefgründige Stücke von John Lennon und Kurt Eisler. Nicht zuletzt war die Plattform Facebook eine Hilfe. Die Jugendlichen richteten eine gemeinsame Seite ein – German-Palestine-Theatre-Group –, auf der ein Austausch über den momentanen Stand stattfand und jeder Einblick in die szenische Umsetzung der jeweils anderen Gruppe bekam.

Klar wurde auch, dass der deutsche Text in Bethlehem auf Englisch gesprochen würde und der arabische Text bei uns in Englisch. Darüber hinaus wurde in Szenen auch durchgehend arabisch gesprochen – ein dreisprachiges Fremdsprachenstück! Dennoch war die Frage, wie und ob man aus den unterschiedlichen Herangehensweisen überhaupt ein gemeinsames Stück würde schaffen können, ein ständiger Begleiter. Viele der Gruppe kannten sich bis zur Probenzeit in Bethlehem nicht, hatten keine Ahnung, auf wen sie da treffen würden. Und dann stand Ende Mai endlich die Reise nach Bethlehem bevor und die Spannung stieg. Was würde dort nun konkret werden, wie würde die Zusammenarbeit funktionieren, wie würden die Szenen ineinander gefügt werden können?

»We are the world«

Uns erwartete – neben einem wunderbaren Theatersaal – eine höchst motivierte und ebenso aufgeregte Gruppe von Jugendlichen. Geprobt wurde nun, da es nur sechs Tage waren bis zur Aufführung, acht Stunden pro Tag, vier am Vormittag mit unserer Gruppe, vier weitere am Nachmittag zusammen. Was im normalen Schulalltag undenkbar wäre, war hier selbstverständlich. Die Schüler waren morgens pünktlich auf der Bühne, wärmten sich auf, stimmten sich selbstständig auf die Probe ein, lernten nachts auf dem Dach des Hotels bei Vollmond und unter den Rufen des Muezzin ihren Text, hörten sich gegenseitig ab, gaben sich Tipps und so schmolzen nach und nach Neuntklässler und Gerade-Abiturienten zu einer fantastisch homogenen Gruppe zusammen.

Die Bühne ist dunkel, man hört nur den ersten Schrei eines Babys, es mischen sich die Klänge des Muezzin und der Kirchenglocken – eine für Bethlehem reale Situation. Die Gruppen begegnen sich, sprechen ihre Namen, sie werden getrennt, eine fiktive Grenze wird gezogen. Es folgen Szenen aus Schule und Elternhaus. Die Grenze ist unüberwindbar, doch Serafin aus Deutschland und Lara aus Palästina lieben sich und bahnen sich einen Weg zueinander über nationale und sprachliche Hindernisse hinweg.

Gemeinsame Ängste, gemeinsame Sehnsüchte

Die Themen Geburt, Familie, Liebe, Freundschaft, Schule und Bildung spielten sowohl bei den Jugendlichen aus Rosenheim als auch bei denen aus Bethlehem eine große Rolle. Bei den Beiträgen der palästinensischen Jugendlichen floss aber auch immer wieder die Angst vor Krieg, Bomben und Besetzung durch feindliche Truppen mit ein. Doch auch die deutschen Jugendlichen leben nicht angstfrei. Immer besser sein als die anderen, immer Leistung zeigen, immer das tun, was von einem verlangt wird. Angst vor der Zukunft, Angst, sich selbst zu verlieren. Frei und unbeschwert fühlen auch sie sich nicht.

Jugendliche beider Seiten haben Angst vor der Zukunft – auch Waldorfschüler – eine überraschende Beobachtung. Während die deutschen Schüler vor einer unüberschaubaren Anzahl an Möglichkeiten stehen, sind die palästinischen Jugendlichen mit einer Mauer konfrontiert, die ihre Möglichkeiten beschränkt. Gemeinsam ist ihnen die Sehnsucht  nach Freiheit und Selbstbestimmung.

Die Aufführung wurde ein großer Erfolg, aber viel wichtiger war, zu spüren und zu sehen, wie diese 24 Jugendlichen mit den unterschiedlichsten biografischen Hintergründen zu einer Gruppe wurden, wie viele Hoffnungen, Wünsche, Ängste und Zukunftsentwürfe sich doch trotz aller kulturellen Unterschiede sehr ähnlich waren und was für eine ungeheure positive Kraft von dieser Gruppe ausging. Am Ende ertönte gemeinsam »We are the world« von Michael Jackson – einen passenderen Abschluss kann man kaum finden. Drei Wochen später kamen unsere Freunde aus Bethlehem nach Rosenheim. Unser Musiktheater war mit zwei Aufführungen im Rahmen der renommierten Opernfestspiele auf Gut Immling vertreten, was der enormen Aufgeschlossenheit des Leiters der Festspiele, Ludwig Baumann, zu verdanken war. Diese beiden Aufführungen bildeten den zweiten Höhepunkt – bei ausverkauftem Haus und »standing ovations« – und den Abschluss dieses spannenden und wunderbaren Projekts, das bis heute bei allen Beteiligten in der unterschiedlichsten Form nach- und weiterwirkt.