Waldorf boomt in China

Nana Göbel

Als Li und Xiao nach dem Studium zurückkamen, gründeten sie zusammen mit Zewu, einem Grundschullehrer, 2004 den ersten Waldorfkindergarten mit fünf Kindern in Chengdu. 2005 eröffnete Bei, die ein Jahr lang am Emerson College in England studiert hatte, einen Kindergarten in Beijing. 2006 begann ein Kindergarten in Guangzhou.

Weitere Vorarbeit hatte ein ehemaliger Waldorfschüler aus Hamburg geleistet: Eckart Löwe lernte schon als Schüler Chinesisch und absolvierte ein Jahr seines Architekturstudiums in China. Ab 1996 ging er immer wieder dorthin zurück; seit 1999 vertritt er die »Freunde der Erziehungskunst« in China. Er begann, sich um pädagogische Fragen zu kümmern, insbesondere in der abgelegenen Berg­region von Nanning. Mit dieser Arbeit und seinem 2002 im Internet veröffentlichten Buch über Waldorfpädagogik wurde er berühmt. Er hat dafür gesorgt, dass die Waldorfpädagogik in China immer bekannter wurde. 

Günstiger Augenblick 

Diese Gründungsphase fiel in eine Zeit, in der erste zaghafte Versuche für Unterrichtsreformen in China unternommen wurden. Ein Erziehungskatalog ersetzte die alten Fest­legungen der zentralen Schulbehörde, das Vermitteln von Wissen trat etwas in den Hintergrund, neue Bereiche wie das Gefühl pflegende Handlungen im Schulalltag sollten eingeführt werden, Lernprozesse statt Abprüfen von Ergebnissen, Schülerzusammenarbeit und Projektarbeit, Vielfalt bei der Wahl des Lehrmaterials. 1979 hatte die Kommunistische Partei die Ein-Kind-Politik eingeführt, um das Bevölkerungswachstum einzudämmen. Die heutigen Eltern haben in ihrer eigenen Jugend die Auswirkungen dieser Politik zu spüren bekommen und wissen, was es bedeutet, als »Goldschatz« von sechs Erwachsenen (zwei Eltern und vier Großeltern) und ohne Gleichaltrige aufzuwachsen. Sie kennen die Grenzen eines Aufwachsens ohne sozialen Bezug zu Geschwistern, die Einsamkeit im Kindesalter und den über­fordernden Erwartungs- und Leistungsdruck, der sich daraus ergibt. Schließlich ruhen auf ihnen alle Hoffnungen. Die heutigen Eltern haben die Kulturrevolution nicht mehr am eigenen Leib erlebt, wohl aber die ausschließlich leistungsorientierte und akademisch ausgerichtete chinesische Staatsschule, bei der Drill und Aus­wendiglernen den Schulalltag bestimmt haben. Diese Erfahrung möchten sie ihren eigenen Kindern nicht zumuten und suchen nach Alternativen.

Inzwischen kann jeder Chinese im Internet nach Alternativen suchen und findet dort Erziehungsratgeber der verschiedensten Couleur. Meistens entdecken junge Eltern die Montessori-Pädagogik und machen damit einige Erfahrungen. Wenn sie dann weitersuchen, stoßen sie auf Ratgeberseiten zur Waldorfpädagogik, auf Berichte aus den Kindergärten oder auf Mitschnitte von Konferenzen. Schnell entsteht der Wunsch, in der eigenen Stadt einen Waldorfkindergarten zu haben. Sie suchen nach Ausbildungsmöglichkeiten, entdecken die Ausbildungskurse in Chengdu und gründen selbst einen Waldorfkindergarten. 

Hundert Kindergärten in sieben Jahren 

Heute gibt es rund 100 Kindergartengruppen, die nach der Waldorfpädagogik arbeiten wollen, dabei ist erst 2004 der erste gegründet worden. Alle Kindergärtnerinnen, die ich in China kennen gelernt habe, möchten ihre Arbeit sehr gut machen und haben einen riesigen Lernhunger.  Nirgends sonst habe ich so bewegliche und lernwillige, veränderungsbereite Menschen kennen gelernt wie dort. Um diesem Bedarf einigermaßen gerecht zu werden, gibt es inzwischen drei Ausbildungszentren, in Chengdu, in Beijing und in Guangzhou, an denen man Blockkurse besuchen kann. Thanh Cherry wurde von uns freigestellt, um diese Arbeit zu koordinieren und dafür zu sorgen, dass die Kindergärten mit Mentoren versorgt werden.

2006 entstand die erste Waldorfschule in Chengdu und Zewu wurde der erste Klassenlehrer. Natürlich gab es bereits einiges Material auf Chinesisch, weil die Waldorfschulbewegung in Taiwan bereits Wurzeln geschlagen hatte, vieles musste aber selbst erobert werden. Die Schule entstand durch eine Gruppe hoch motivierter Freunde, die unter einfachsten Bedingungen in einem fast leerstehenden alten Haus anfingen. Heute ist die Millionenstadt um diesen Ort herum­gewachsen, umringt von 20-stöckigen Hochhäusern. Aus dem kleinen Schülchen ist eine Schule von der 1. bis zur 8. Klasse geworden, mit einem eigenen – durch viele Spender aus Deutschland ermöglichten – Schulhaus, das die Voraussetzung für die Genehmigung ist. Während es als schick gilt, sein Kind in einen Waldorfkindergarten zu schicken, braucht die Entscheidung für die Waldorfschule noch Mut, den aber immer mehr Eltern aufbringen.

Nun könnte man denken, dass die Schulbewegung nicht so schnell wachsen würde, da sie noch keine legale Grundlage hat. Dem ist aber nicht so. Insbesondere in der Provinz Guang­dong haben bereits mehrere Schulen mit der Arbeit begonnen, intensiv begleitet von Evelyn Lang. Sie hat die Lehrer der 2007 gegründeten Schule in Guangzhou so geschult, dass dort ein Waldorf-Kompetenz-Zentrum für China entstanden ist.

Gemeinsam mit Ben Cherry und drei chinesischen Kollegen begleitet und koordiniert sie die Lehrerausbildung. Dieses Team haben wir im September 2010 während der ersten chinesischen Waldorflehrertagung gebildet, da die schnell wachsende Bewegung bewusstseinsmäßig begleitet werden muss. Das Leben ist in China alles andere als spannungsfrei und so hat sich die Bildung dieser Gruppe bereits heute schon als hilfreich erwiesen.