Wir halten zusammen

Holger Grebe

Ein männlicher Briefmark erlebte
Was Schönes, bevor er klebte.
Er war von einer Prinzessin beleckt …

Was lehrt uns diese humorvolle Miniatur aus der Feder des Dichters Joachim Ringelnatz? – Der Autor, als Hans Bötticher 1883 bei Leipzig geboren, lebte noch im »Zeitalter des Briefeschreibens«. Mit großer Empathie versetzt sich der gelernte Leichtmatrose, dem nach eigener Aussage ein »unüberwindlicher Wandertrieb« zu eigen war, in ein Postwertzeichen, kurz bevor es auf Reisen gehen muss, sodass es mit seiner frisch erregten Liebe alleine bleibt. Heute, wo die Zahl der Papierbriefe permanent sinkt, scheint diese Epoche auch in Deutschland dem Ende entgegen zu gehen. Allein zwischen 2006 und 2016 ist die Zahl von 70 auf 59 Millionen Briefe pro Werktag gesunken. So testet die Post zurzeit eine Reduktion der Briefzustellung auf ein- oder zweimal in der Woche. Bei der Mehrzahl dieser Zustellungen handelt es sich vermutlich schon heute, im Zeitalter der elektronischen Datenübermittlung, um Drucksachen und Geschäftsbriefe ohne jede Handschrift.

Vor diesem Hintergrund ist es sehr zu begrüßen, dass seit September 2017 eine Idee zur Feier des 100-jährigen Jubiläums der Waldorfpädagogik nun Wirklichkeit wird: Unter dem Stichwort »Waldorf100« schreiben und malen sich alle Waldorfschulen auf der ganzen Welt gegenseitig Postkartengrüße, um damit grenz- und kulturüberschreitende Beziehungen zu knüpfen. Bei über 1.100 Einrichtungen sind das weit über eine Million »Visitenkarten«, die da auf Reisen gehen. Lauter Unikate, wenn es gut geht! Das Format, die Postkartengröße 14,8 x 10,5 cm, stellt für die kleinen und großen Gestalter aus unseren Waldorfklassen durchaus eine Herausforderung dar. Für eine einzügige Schule mit etwa 400 Schülerinnen und Schülern in 13 Klassen käme auf jeden Heranwachsenden ein Gestaltungsauftrag für etwa drei Karten zu. Ein Kinderspiel bei genügender Motivation – eine Zumutung, wenn das Projekt nur routiniert in der Verwaltungskonferenz abgehandelt oder gar vertagt wird.

Um das pädagogische Feuer für die Initiative zu gewinnen, haben sich an der Freien Waldorfschule Balingen die Schülersprecher und einzelne Schülergruppen der Sache angenommen und in kleinen Workshops anregende Prototypen hergestellt, die sie in der Konferenz dem Kollegium präsentierten. Die bis Mitte Oktober eingegangenen Karten aus Indien, Nepal, Österreich und den Niederlanden, aber auch aus Oldenburg, Eckernförde, Hamburg oder Stuttgart boten Stoff für Diskussionen – auch mit Kunstlehrern und Deutschkollegen. Was zeigt etwas von der Eigenart der Herkunftsregion? Vielleicht Ansichten der Burg Hohenzollern bei Hechingen oder Motive wie ein Ammonit oder die Höhenlinie der Schwäbischen Alb? Lässt sich eine Drohnen-Aufnahme unseres Schulgeländes zeichnerisch umsetzen? Wo spürt man die Individualität des Schreibers oder Malers durch? Welche Techniken von Buntstiften und Aquarellfarbe über Radierung oder Linoldruck bis zur Text-Bild-Collage sind geeignet, um kleine Unikate herzustellen, die die Sprache des Herzens sprechen? Was ist in den verschiedenen Stufen altersgemäß? Welche Rolle kann der Humor spielen? Können wir Schnappschüsse aus der Schusterwerkstatt mit dem Slogan kombinieren »100 Jahre Waldorf – 100 Jahre dreiteilig schreiten«? In der Praxis weht der Wind quer durch die Klassen. Eine Schülerin der 13. Klasse zeichnete zwei Hände, die sich symbolträchtig umklammern. Dieses Motiv wurde in Klasse zehn als Radierung umgesetzt und von Schülern der achten und elften Klasse koloriert, betextet und signiert: »Wir halten zusammen!«

Alles prüfe der Mensch

Nimmt man als Vorbild Künstlerpostkarten hinzu, wie sie vor dem Ersten Weltkrieg durch expressionistische Maler wie Franz Marc oder Wassily Kandinsky gefertigt wurden, dann scheint der Facettenreichtum unerschöpflich. In Balingen bieten sich außerdem Aphorismen und Sentenzen von schwäbischen Dichtern wie Friedrich Schiller, Wilhelm Müller oder Friedrich Hölderlin an. Es muss nicht philosophisch sein, kann es aber: »Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen / Daß er kräftig genährt, danken für alles lern / Und verstehe die Freiheit, / Aufzubrechen, wohin er will.« Ein Zweifler könnte einwerfen: »Versteht das ein Waldorfschüler in Korea oder Mexiko?«. Aber muss man alles verstehen? Nett sind auch schwäbische Redensarten wie die folgende: A leerer Gruass gohd barfuass. Zu Deutsch: Kein Besuch ohne Mitbringsel. Vielleicht lässt sich mit Schülern auch eine Textwerkstatt einrichten, in der kleine Rätsel, Haikus oder Elfchen entstehen oder Liedzeilen angepasst werden. Warum nicht drollige Brieftauben wegschicken – »... hat ein Zetterl im Schnabel, von der Laura einen Gruß« – oder schlicht um Antwort bitten.

In der fünften Klasse stellte sich heraus, dass einige Kinder Kontakte nach Übersee haben und den Versand für ganze Ländergruppen übernehmen wollen. Stellt man sich auf die Sprache des Adressaten ein oder bleibt man gerade dem heimatlichen Idiom treu, um die kulturellen Unterschiede nicht zu verwischen? Auch die Präsentation der eingehenden Karten in Form einer postalischen Weltkarte ist eine Gestaltungsaufgabe für inspirierte Netzwerker und pfiffige Öffentlichkeitsarbeiter. Welche Wand im Schulbereich ist groß genug? Können wir eine Reliefkarte anfertigen, um darauf die Absender mit Fähnchen zu stecken? Wer ist beim Pressetermin mit lokalen Medien dabei?

Die Postkartenaktion ist eine wunderbare Idee. Gerade in einer Zeit, wo erste Länder wie Finnland die Schreibschrift in der Schule zurückdrängen wollen, öffnet sie der Handschrift eine internationale Bühne. Darüber hinaus macht sie uns die Vielfalt bewusst, welche in Waldorf als Weltschulbewegung steckt. Und nicht zuletzt weckt sie das Bewusstsein für die subtile Energie, die sich zwischen Sender und Adressat einer Nachricht entfalten kann – besonders dann, wenn man die Ringelnatz-Perspektive eines »männlichen Briefmark« mit einbezieht.

Zum Autor: Holger Grebe ist Oberstufenlehrer für Geschichte und Deutsch an der FWS Balingen.

www.waldorf100.org