Erziehung und Schlaf

Christof Wiechert

Schlafstörungen im frühkindlichen Alter haben eine negative Wirkung auf die Entwicklung des Gehirns und erhöhen die Möglichkeit des Auftretens von ADHS um das Dreifache. Unter Schlafstörungen versteht man chronisch zu wenig Schlaf, gestörten Schlaf oder Einschlafstörungen, zum Beispiel durch Sinnesüberreizung. Auch die Regelwissenschaft spricht heute von der wohltuenden Wirkung eines Einschlafrituals für jedes Kind. Eine schöne Aufgabe für Eltern. Schon bei der Einführung der waldorfpädagogischen Anthropologie, weist Steiner auf zwei Grundtatsachen hin, die jeder vernünftigen Pädagogik ihr Fundament geben: Atmen und Schlafen.

Zum letzteren meint er lapidar: »Das Kind kann nicht alles dasjenige …, was es mit den Augen sieht, den Ohren hört, den Händchen vollbringt, wie es mit den Beinchen strampelt …, hineintragen in die geistige Welt und dort verarbeiten und das Ergebnis der Arbeit wieder zurücktragen auf den physischen Plan. Sein Schlaf ist gerade dadurch charakterisiert, dass er ein anderer Schlaf ist als der Schlaf der Erwachsenen.«

Eine Tatsache, die heute gründlich erforscht ist: Im Nachtschlaf werden die Erfahrungen des Tages verarbeitet. Das Gelernte des Tages wird im deklarativen Gedächtnis (dem aussprechbaren Wissen) verankert und die Erfahrungen werden dann in das prozedurale Gedächtnis überführt, wo sie zu Fähigkeiten werden. Das erhofft man sich vom Schüler und setzt es beim Erwachsenen voraus.

Schon 1924 beschrieb Steiner, wie bei einem richtigen Rechenunterricht das Kind im Schlaf die Rechenfähigkeit weiter entwickle und am nächsten Tag mehr könne als am Tag davor. Beim heutigen Stand des Wissens befremdet diese Aussage keineswegs.

Kein Epochenunterricht ohne Schlaf

Wie bezieht die von Steiner entwickelte Erziehungskunst den Schlaf in die Unterrichtspraxis ein? Man kann wohl sagen, auf sein Konto geht eine bedeutende Anzahl Erfindungen. Man denke an die Eurythmie, an die biologisch-dynamische Wirtschaftsweise, an die Erweiterung der Heilkunst, man denke an die bedeutende Inspiration der Dreigliederung des Menschen und des sozialen Organismus. Aber es gibt auch eine Anzahl ›kleinerer‹ Erfindungen, die kaum als solche gewürdigt werden.

Zum Beispiel der Epochenunterricht. Ein wahrhaft goldener Griff, bei dem man sich fragt, warum die Regelpäda­gogik sich den noch nicht zu eigen gemacht hat. Das Erstaunliche am Epochenunterricht ist, dass während einiger Wochen Schüler die Gelegenheit haben, während der ersten zwei Schulstunden am selben Thema zu arbeiten. Man kann sich denken, was das für den Schlaf, für die Nacht bedeutet: Morgen machen wir weiter! Was haben wir gestern gemacht? Wie war die Woche? Nächste Woche werden wir uns damit und damit beschäftigen.

Schon an diesen Sätzen spürt man: Der Lehrer, der sich dieser Möglichkeiten bewusst ist und sie anwendet, kommt mit den Schülern in einen Zeitstrom, der ein Entwicklungsstrom ist. Lernen wird ein Puls von Wachen und Schlafen, ein wogendes Leben, wie die Wellen im Meer. Man denke an das Gegenteil: Wir lernen ein bedeutendes Stück Geographie – Fortsetzung nächste Woche. Aber dann ist alles wieder weg, was von heute auf morgen durch das Gehirn in der Nacht bereitgestellt wurde. Es wird nichts mehr damit gemacht. Nächste Woche ist es weg und das Lernen bleibt Stückwerk.

Dem Beispiel ist zu entnehmen, dass der Lehrer den Unterricht dynamisieren muss. Im Unterrichtsverlauf muss ein deutliches Atmen von Konzentration und Entspannung, von Hinwendung und Tätigkeit vorhanden sein. Wer das macht, spürt das Bedürfnis, jeden Tag Bögen zu schlagen zwischen gestern und heute, zwischen letzter Woche und heute, zwischen heute und dem, was morgen kommen wird. Der Lernvorgang wird ein Organismus. Jeder inhaltsreiche Tag baut auf die nächtliche Verarbeitung des Vortages. Das ist Epochenunterricht!

Vergessen heißt, in Fähigkeit verwandeln

Viel hängt davon ab, wie der Lehrende selber im Leben steht. Ist für ihn oder sie der Tag ein ›Digit‹ in einem Meer von ›Digits‹, die also Entitäten für sich sind und keinen Zusammenhang bilden? Oder erlebt der Lehrer die Wellen, die vom Tag zur Nacht, von der Nacht zum Tag schlagen? Wird er, bevor die Schüler nach Hause gehen, eine Frage stellen oder ein Rätsel aufgeben, mit der Bitte, die Antwort morgen mitzubringen? Wird er oder sie am Morgen mit echtem Interesse nach den Erfahrungen des gestrigen Tages fragen? Es sind Fragen der Inklusion der Nacht in den Tag. Die Nacht gehört zum Leben wie der Tag.

Nicht umsonst haben wir immer noch die Gewohnheit, unseren Partner oder Kollegen am Morgen zu begrüßen mit der Frage ›Hast Du gut geschlafen?‹ Anscheinend doch etwas Wichtiges!

Bemerkenswerterweise empfiehlt Steiner – auch dazu gibt es heute interessante Untersuchungen –, nach einer Epoche solle das Gelernte für einige Zeit vergessen werden. Denn Vergessen bedeutet, das Gelernte verdauen, es zur Fähigkeit umwandeln.

Eine Pädagogik, die vorschreiben würde, man müsste alles behalten, alle Fakten jederzeit parat haben, wäre problematisch. Steiner empfahl jedoch, am Ende eines Schuljahres, in einer eigens dafür eingerichteten Epoche, alles Gelernte wieder in das Gedächtnis zu heben. An solchen Empfehlungen erlebt man die gewaltige Dynamik, die Steiner sich vom Unterrichten der Lehrer erhoffte.

Es gibt noch einen bedeutenden Hinweis zur Wirkung des Unterrichtes in der Nacht. Das ist der sogenannte Dreischritt, in dem Steiner bis in die Details darauf eingeht, wie ein Lehrstoff sich durch die sogenannten Wesensglieder einige Nächte lang ›einverleibt‹, bis er im Gehirn, dem physischem Leib, verankert ist und wie ein guter Unterricht diesen Prozess unterstützt.

Im normalen Schulalltag werden die Schüler davon nicht viel erleben, aber der einsichtige Lehrer benutzt genau diese didaktischen Vorgaben, ohne die es keinen Epochenunterricht geben kann.

Wie andere Unterrichtsgegenstände durch die Nacht zur Reife kommen, kann hier nicht ausgeführt werden. Fähigkeitsbildung durch Kunst zum Beispiel bedarf der Epoche nicht. Der Fremdsprachenunterricht ist offen für beide Formen.

Wer vorbereitet in die Nacht geht, bekommt Antworten

Schauen wir noch auf weitere subtile Beziehungen zwischen Tag und Nacht, Schlafen und Wachen.

Wer am Abend ein Problem oder eine Frage bewegt, wird die Erfahrung machen können, dass er am Morgen dem Problem oder der Frage anders gegenübersteht. Das ist leicht gesagt und führt zu der allgemeinen Aussage: »Ich muss mal darüber schlafen.« Tatsache ist aber, dass es am Abend zuvor schon einer energischen gedanklichen Intensität bedarf, wenn ein Ergebnis am Morgen da sein soll.

Nun wenden wir diese Tatsache als Eltern auf eine existenzielle Frage an, die unser eigenes Kind betrifft. Wir machen uns zum Beispiel Sorgen um das Verhalten eines Zwölfjährigen, er steckt nicht richtig in seiner Haut. Es kann gut sein, dass der Morgen nichts bringt, keine neue Empfindung, keinen neuen Gedanken, kein unerwartetes Gefühl. Der Versuch wird ein zweites und ein drittes Mal unternommen mit demselben Ergebnis.

Es gibt dafür zwei mögliche Ursachen: Man bemerkt an sich selber nicht, dass »anderes da ist«, oder man hat am Abend zuvor noch andere Gedankeninhalte bewegt als die, die zu der Fragestellung gehören. Das Erstere geschieht oft: Man hat eine neue Idee, eine andere Empfindung, allein, man ist nicht in der Lage, sie in der Vorstellung zu ›fangen‹. Wir müssen, wie Fischer am Meer, uns die Fähigkeit aneignen, am Morgen das Fischernetz durch den Ozean der Nacht zu ziehen und zu erkennen, was im Netz angekommen ist.

Die zweite Ursache hängt mit der Vorbereitung auf die Nacht zusammen. So wie wir uns am Morgen fragen: »Wie hast du geschlafen?«, so ist es auch eine uralte Gewohnheit, den Übergang vom Tag zur Nacht, nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Erwachsenen, zu gestalten. Seit Tausenden von Jahren gibt es die Gewohnheit des Betens am Übergang zur Nacht. Ja, warum denn? Mit dem Gebet oder der Meditation wird der Übergang zur Nacht vorbereitet. Nun stelle man sich vor, ein solcher gestalteter Übergang trägt die Empfindung meiner Frage, meiner Sorge mit. Sie wird wirken! Aus dem geistigen Meer der Nacht kommen Antworten, als Gedanke, als Empfindung, als Gefühl oder auch als ein sicheres Wissen von dem, was zu tun ist.

Eltern können solche Situationen schaffen. Von Waldorflehrern darf es erwartet werden. Es darf erwartet werden, dass sie sich dieser geistig-seelischen Technik bedienen. Gute Unterrichtsqualität braucht das Einbeziehen der Kräfte der Nacht. Denn wir können nicht alles wissen und nicht alles auf Anhieb richtig tun. Wir Lehrer müssen uns dem unermesslichen Reservoir der Intuition in allem Ernst und aller Demut nähern und an der Schwelle zur Nacht um Hilfe bitten. Der Lehrer, der das anstrebt, wird jeden Schüler verstehen und lieben lernen, auch den schwierigsten. Dann ist der Weg zur wirksamen Hilfestellung geebnet.

Steiner gab den Lehrern Berufsmeditationen, um diese Brücke zwischen hier und da, zwischen Jenseits und Diesseits, zwischen Tag und Nacht, zu bauen.

Zum Autor: Christof Wiechert war langjähriger Leiter der Pädagogischen Sektion am Goetheanum in Dornach.