Was ist Schulreife?

Elke Schaffrath

Voraussetzungen der Schulreife 

Waldorfpädagogen unterscheiden neben dem Ich drei weitere Schichten oder »Wesensglieder« am Menschen, die sich die geistige Individualität zu eigen macht: den physischen Leib, den Lebenskräfteleib und den Seelenleib. Das Individualisieren dieser drei Wesensschichten ist ein stufenweiser Prozess, der durch die drei sogenannten Jahrsiebte verläuft und eine Grundlage für den Grad der Gesundheit im ganzen Leben bildet. 

Denkkräfte sind umgewandelte Lebenskräfte 

Entscheidend für die »Schulreife« ist, dass ein Teil der Lebenskräfte, die im physischen Leib für die Ausgestaltung der inneren Organe, für die Ausreifung des Gehirns und der Nervenbahnen, der Verdauungstätigkeit und des Atem- und Zirkulationssystems sorgen, frei wird und als Denkkraft zur Verfügung steht. Dies geschieht ungefähr zum Zeitpunkt des Zahnwechsels. Die Lebenskräfte haben ihre Aufgabe an den Organsystemen erfüllt. Im weiteren Leben wachsen und reifen die angelegten Grundstrukturen nur noch aus. Der physische Leib muss in Ruhe ausreifen können, weil er die Grundlage des seelischen und geistigen Lebens des Menschen ist. 

Lasst den Kindern Zeit 

Schicken wir ein Kind zu früh in die Schule, muss es immer wieder auf Kräfte zurückgreifen, die es für die Ausbildung seiner physischen Organisation benötigt. Wir betreiben damit Raubbau an den Kräften, die es für den Organaufbau braucht. Das merken wir den Kindern in der Regel sofort an. Sie sind blass, müde, nehmen sich eventuell eine Auszeit durch Krankheit. Die eigentliche »Quittung« kommt aber erst in der zweiten Lebenshälfte. Es ist anzunehmen, dass wir durch unsere Früheinschulungstendenzen wesentlich zur »Burn-Out«-Problematik des mittleren Lebensalters beitragen. Eine Schwäche im Substanzaufbau der Organe zeigt sich erst unter den organischen Abbaubedingungen des Alterns. Das Anamnesegespräch in der anthroposophischen Medizin fragt diese im Lebenslauf viel früher liegenden Bedingungen bei der Ursachenerforschung von Volkskrankheiten wie Rheuma und Arteriosklerose ab. Die funktionellen Organprozesse werden von uns in der frühen Kindheit geprägt. Sie zeigen im Alter ihre Schwachstellen.

Wenn das Kind in Ruhe reifen darf, erzeugen wir einen Überschuss an Kraft, der für den Schulstart willkommen ist, und für vielfältige Lernaufgaben, zum Beispiel das Erlernen eines Musikinstrumentes, genutzt werden kann. 

Erst Greifen – dann Begreifen 

Was müssen wir mit unseren Kindern üben?

In der Vorschulzeit übt das Kind mit den Kräften des Lebensleibes Fähigkeiten im physischen Körper ein. Als Beispiel besonders gut nachvollziehbar ist die Bewegungsentwicklung am Muskel. Bis zur Erlangung einer Geschicklichkeit übt das Kind unermüdlich den Muskel. Zunächst ist die Kraftsteuerung noch grob. Eine Bewegung ist schnell fertig und wird mit zu viel Kraft ausgeführt. Der Einzelmuskel kommt schnell in die maximale Anspannung. Eine feinfühlige Kraftdosierung muss für jede Muskelgruppe neu geübt werden, angefangen vom Turmbauen bis zum Scherenschneiden entlang einer Linie.

Diese motorische Schwingungsfähigkeit zeigt sich im Freiwerden der Kräfte ins Seelische hinein an der Fähigkeit des Mitschwingens mit dem, was die Klasse macht. Vor der Schulreife kann das Kind einen großen Eigensinn zeigen. Es erscheint wie gefangen in seiner eigenen Vorstellungs- und Wunschwelt. Diese Befangenheit löst sich mit zunehmender motorischer Geschicklichkeit.

Feine Kraftdosierung wird zu Feinheit in den Denkbewegungen und Feinfühligkeit im sozialen Kontakt. Ein guter Muskeltonus ergibt eine gut gespannte Saite und damit eine gute Aufrichtekraft in der Wirbelsäule. Das ermöglicht Wachheit und Freude im Zuhören, Konzentration und Durchhaltekraft. Das Selbstvertrauen der Kinder wird durch ein gutes Darinnenstehen im »Muskelmenschen« grundlegend gestärkt.

Vor wenigen Jahrzehnten waren Ball- und Springspiele noch selbstverständliche Beschäftigungen eines Kindes im Freien. Diesen Spielraum hat die Erwachsenenwelt den Kindern genommen. Deshalb müssen solche Spielräume wieder angeboten werden. Kinder sollten in vielen Variationen Ball spielen: mit dem Gymnastikball, einem Tennisball, einem Reissäckchen oder einem Medizinball.

Der Muskel reagiert auf das unterschiedliche Gewicht der Bälle. Im wiederholten Tun lernt er, sich im Tonus feiner einzustellen. Jetzt kann man noch die Bewegung und deren Ausgangslage variieren. Wir werfen nach oben über eine Schnur, nach unten in einen Korb, geradeaus zum Spielpartner. Das alles sind Beispiele für zielmotorisches Üben.

Das Seilspringen rhythmisiert und harmonisiert das Kind bis in den Atem-Pulsrhythmus hinein. Durch den Sprung vom Boden nach oben erhält das Fußgewölbe Spannkraft und richtet sich auf. Der kindliche Plattfuß verschwindet.

Das Vorschulkind springt zunächst schwer und unrhythmisch. Ein Seil selbst zu schwingen und gleichzeitig zu springen, überfordert es. Aber auch wenn man das große Seil für es schwingt, muss man es zunächst für jeden Sprung abholen. Man muss ihm das Seil buchstäblich vor die Füße legen und sich seinem unrhythmischen Springen anpassen. Erst allmählich lernt es, nicht hinunter in die Schwere, sondern federnd hinauf ins Leichte zu springen. Dann ist der Weg frei zum rhythmischen Springen. Das Kind springt vom Boden in die Höhe und holt sich beim Absprung Spannkraft für die aufrechte Körperhaltung. Der Schwingende kann jetzt auch den Rhythmus vorgeben und variieren. Das Kind kann innerlich mitschwingen und sich anpassen. Kann es unter dem geschwungenen Seil hindurchlaufen oder in ein vorgeschwungenes Seil hineinspringen, hat es die Prüfung des innerlichen Mitschwingens bestanden.

Durch den schwingungsfähigen Muskeltonus, die gut gespannte Saite, befreit sich die Seele von allen störenden persönlichen Befangenheiten in Stimmungen, Wünschen und Träumereien und wendet sich dem Lernen und Schaffen voller Freude zu. 

Die Mitte finden zwischen Überschuss und Antriebsarmut 

Das Kind, das den Bewegungsimpuls noch zu wenig beherrscht, wird dazu neigen, im Bewegungsteil des Unterrichts über das Ziel hinaus zu schießen, das Ende der Bewegung nicht zu finden. Die schwungvoll nachgeahmte Flugbewegung der Vögel aus dem Gedicht wird dann erst durch die Wand gestoppt. Das Wort und der Rhythmus können die Bewegung noch nicht führen, gliedern und beenden. Jede Bewegung kommt vom Impuls her aus dem Stoffwechsel-Gliedmaßenbereich, also von unten, ist von sich aus eher schnell und überschießend. Der »Kopfpol« bringt von oben Ruhe, Überschau und Planung. Das Rhythmische System hat die Aufgabe, diese beiden Komponenten auszugleichen.

Das Kind neigt mit seinen Begabungen immer nur zu einem der beiden Pole. Herrscht der »Gliedmaßenpol« vor, dann hat es viel Kraft, die Überschau jedoch reicht nicht aus. Herrscht der Kopfpol vor, kommt es nicht genügend ins Tun. Der rhythmische Teil des Hauptunterrichtes hat die Aufgabe, die langsamen und träumenden Kinder zu beschleunigen und die schnellen zu beruhigen. Dies gelingt aber nur, wenn das Kind in seinem Bewegungs­impuls von der Sprache erreicht wird.

Beim noch verträumten Kind muss das Bild in der Sprache konkret und stark genug sein, um es ins Tun zu führen. Das überschießend bewegungsfreudige Kind muss dahingegen über die Sprache beruhigt werden.

Eine Rhythmisierung kann auch durch Gehen oder Wandern über längere Strecken erreicht werden. Gerade an der Hand eines Erwachsenen findet das Kind rasch in den geordneten Rhythmus hinein. Auch das Singen wirkt sofort zurück auf die Puls- und Atemfrequenz. 

Vorstellungen, die fliegen oder zu fest sind 

Die Kräfte, die den Körper plastisch aufgebaut haben, werden mit der Schulreife zu plastischen Bildekräften der Seele. Auch hier bringen die zukünftigen Schulkinder unterschiedliche Begabungen mit. Das phantasievolle Kind malt farbenfroh und unkonturiert. Ein Kind, das schon sehr konkret malt, verändert dagegen die Darstellung und Art seiner Motive kaum. Bei dem einen fliegen die Vorstellungen davon, bei dem anderen sind sie zu fest.

Innere Bilder müssen im Seelischen vom Kind selbst hervorgebracht werden. Dies ist ein aktiver Vorgang, der in unserer Zeit von der äußeren Bilderflut bedroht wird. Die über die Medien, Comics, selbst die Bilderbücher aufgenommenen Bilder sind fertig und fordern die Phantasie des Kindes nicht heraus. Die innere Bildekraft wird nicht angeregt.

Der Tätigkeitsquell der eigenen Phantasie muss immer aktiv erschlossen werden. Durch Reime und Zungenbrecher können wir die Kinder in die bildhafte und konturierte Sprache und in die Bilderwelt der Märchen mitnehmen. 

Welcher König bist Du? – Die Macht der Gedanken 

In der Neujahrszeit spielen die Kindergartenkinder das Dreikönigsspiel. Die Vorschulkinder dürfen die Könige sein. Sie werden von den Erziehern in schöne Gewänder gekleidet und gekrönt. Das letzte Kindergartenjahr ist das »Königsjahr« und die »Krönung« einer der Höhepunkte. Die innere Haltung der Erzieher ist bei dieser Tätigkeit das Entscheidende. Stellen diese sich innerlich die Frage: »Welcher König bist Du?«, dann ist das Einkleiden für alle sichtbar und fühlbar ein von Ehrfurcht geprägtes Zeremoniell. Diese Haltung ist ansteckend. Der Page des Königs und auch die anderen Kinder schlüpfen in diese Stimmung. Das »Königskind« wächst über sein augenblickliches Selbst hinaus und man kann eine Ahnung von der Individualität bekommen, die es einmal werden will.

Immer ist es die verstehende Zuwendung, die dem Kind neue Räume eröffnet. Das Kind braucht die Führung, das Vorbild des Erwachsenen, um diese Räume zu betreten. Wenn es die äußeren Räume schön in Ordnung hält, verhilft ihm das zu einer harmonischen Grundstruktur.

Dem Kind sollte unbedingt die Zeit gelassen werden, die organische Reifebildung ungestört abzuschließen, damit dann ein fröhliches, aufgewecktes Kind mit allen ihm zur Ver­fügung stehenden Kräften den Schulstart beginnen  kann, das eine gute Grundlage für die Gesundheit in der zweiten Lebenshälfte besitzt.