Was tun bei Verdacht auf Missbrauch?

Mathias Wais

Wenn wir ernsthaft befürchten, dass in der eigenen Familie, in der Nachbarschaft oder an der Schule, an der wir arbeiten, ein Kind sich in einer Missbrauchssituation befindet oder befunden hat, so sollten wir zuerst eine Tasse Tee trinken. Wir sollten versuchen, Ruhe zu bewahren. Wir sollten uns hinsetzen und so nüchtern wie möglich die Tatsachen aufschreiben, die uns auf diese Vermutung gebracht haben. Was habe ich beobachtet? Was hat das Kind gesagt? Nach ein paar Tagen nehmen wir das Notierte wieder hervor und ergänzen oder korrigieren es.

In einem zweiten Schritt werden wir mit unseren Aufzeichnungen eine Fach-, Erziehungs- oder Spezialberatungsstelle für sexuellen Missbrauch aufsuchen und die eigenen Beobachtungen vortragen. Dort wird, wer einen solchen Verdacht meldet, auf jeden Fall ernst genommen. In der Regel werden sich mehrere Personen verschiedener Professionalität mit dem Fall beschäftigen und das weitere Vorgehen mit dem, der den Verdacht gemeldet hat, besprechen und abstimmen. Es muss zum Beispiel festgelegt werden, wer wann mit dem Kind, den Eltern oder der Mutter ins Gespräch kommen soll. Oder wer begleitet und berät die meldende Person? Ein Missbrauchsfall muss immer multiprofessionell behandelt werden. Niemand, kein Laie und auch keine Fachkraft kann als Einzelperson einen Missbrauch aufdecken. Man hat es mit einem Nebel von komplexen Beziehungen zu tun, in dem man sich leicht verirrt und die Übersicht verliert, wenn man sich als Einzelperson um Aufklärung bemüht.

Die Vertrauensperson wird versuchen, mit dem Kind ins Gespräch zu kommen. Sie wird dem Kind zum Beispiel sagen, dass sie Kinder kennt, die körperlich und sexuell belästigt worden sind, und sie wird ein paar Beispiele für diese Art von Belästigung schildern. Dies ist wichtig, damit das Kind weiß, dass die Vertrauensperson im Prinzip weiß, worum es geht. Das Kind wird dann nach und nach einzelne Übergriffe andeuten oder auch schildern. Es wird dies aber nicht in einer bündigen und zusammenhängenden Weise tun, sondern immer fragmentarisch und zum Teil sogar widersprüchlich. Man wird das Kind von dem Geheimhaltungsgebot entbinden und ihm sagen, dass man dafür die Verantwortung übernimmt. Man wird zum Ausdruck bringen, dass man froh ist, dass es darüber sprechen kann und dass ihm das gut tun wird. Es soll, noch bevor man Fakten von ihm verlangt, ermutigt werden, über seine Gefühle – oft sind es Hilflosigkeit, Angst, Scham oder Schuld – zu sprechen. Man wird am Anfang dieser Gespräche keine Warum-Fragen stellen oder gar Vor­haltungen machen, wie zum Beispiel: »Warum hast Du Dich darauf eingelassen?«. Man wird auch keine Verwünschungen an die Adresse des Täters richten, sondern das Kind bezüglich des Täters beruhigen, indem man etwa zum Ausdruck bringt, dass die Erwachsenen gemeinsam etwas unternehmen werden, dass die Übergriffe aufhören. Nach dem Namen des Täters fragt man zuletzt.

Manchmal nehmen Kinder im Verlauf solcher Gespräche ihre Aussagen wieder zurück. – »Das habe ich alles nur geträumt.« Das gilt es zu respektieren. Und man kann dem Kind zum Beispiel antworten: »Ich sehe, Du möchtest, dass ich glaube, dass Du das alles nur geträumt hast. Ich kann mir gut vorstellen, dass Du Dir das wünschst.« Das Kind wird bemerken, dass wir seine Ambivalenz bezüglich des Aussprechens der Tatsachen erkennen und respektieren, und wird bei weiteren Gesprächen an die Darstellung des Faktischen wieder anknüpfen können.

In der Presse wird immer wieder von falschen Anschul­digungen im Zusammenhang mit dem Verdacht auf sexuellen Missbrauch berichtet. Solche falschen Anschuldigungen machen etwa vier Prozent der Verdachts­meldungen aus. Sie werden manchmal im Zusammenhang mit Sorgerechtsstreitigkeiten sich trennender Elternpaare geäußert. Von sich aus oder manchmal von der Mutter aufgefordert kann ein 12- oder 13-jähriges Mädchen von Eltern, die sich in Trennung befinden, behaupten, es werde vom Vater seit Jahren missbraucht.

Solche Falschmeldungen sind für den Fachmann meist schnell als solche erkennbar, weil diese Kinder auf näheres Befragen keine Einzelheiten nennen können und die bündige Aussage, die sie sich zurechtgelegt haben, ständig wiederholen. – Häufiger sind Irrtümer nach der anderen Richtung: Kinder können einer Vertrauensperson so detailliert von Übergriffen berichten, dass man nach allem fachlichen Ermessen keinen Zweifel an der Tatsächlichkeit der Übergriffe hat. Vor Gericht ziehen sie ihre Schilderungen aber dann zurück.

Es ist gut, dass die Öffentlichkeit sich heute mit dem Thema Missbrauch beschäftigt. Besonders wichtig ist es aber, dass man sich eine klare Haltung zu diesem Thema erarbeitet. Auch wenn Vorsicht geboten ist: Man sollte nicht aus der ersten Beschäftigung mit dem Thema heraus wie ein Detektiv jedes Kind, das einem vor Augen kommt, auf mögliche Symptome hin absuchen. Eine flirrende, ängstliche Unruhe im Zusammenhang mit diesem Thema ist für alle Beteiligten, in erster Linie aber für die Opfer, destruktiv. Verhaltensauffälligkeiten der Kinder können auch andere Ursachen haben. Jeder, der einen Missbrauchsverdacht hegt, sollte eine Fachberatungsstelle hinzuziehen und nicht den Ehrgeiz haben, als Privatperson und alleine einen Verdacht aufdecken zu wollen. Der Rat, zuerst eine Tasse Tee zu trinken, ist bei diesem ernsten Thema durchaus ernst gemeint.

Lesetipps:

Mathias Wais: Sexueller Missbrauch. Symptome – Prävention – Vorgehen bei Verdacht. 54 S., EUR 8,00, Gesundheitspflege initiativ, Esslingen 1999. »Die öffentliche Meinungsbildung zum Thema Missbrauch ist stark beeinflusst durch eine sensationsheischende Berichterstattung in den Medien, welche lediglich das erlebte Grauen erneut ausbreitet, ohne sinnvolle Perspektiven aufzuzeigen.« (daraus der obenstehende Textauszug);

Mathias Wais, Ingrid Gallé:der ganz alltägliche Missbrauch. Aus der Arbeit mit Opfern, Tätern und Eltern, 224 S., EUR 16,80, Mayer Verlag, Stuttgart, Berlin 2008. »Sexueller Missbrauch ist nur ein Beispiel dafür, wie geläufig es immer noch in unserer Gesellschaft ist, sich andere Menschen, die in irgendeiner Weise abhängig sind, zur eigenen Verfügung zuzurichten.«;

Peter Petersen, Jeanne Rosenhag: Dieser kleine Funken Hoffnung – Therapiegeschichte eines sexuellen Missbrauchs, 128 S., EUR 15,80, Mayer Verlag, Stuttgart 2008. Im Verlauf ihrer Therapie zur Verarbeitung eines jahrelangen sexuellen Missbrauchs durch den Stiefvater verfasste die Patientin Jeanne Rosenhag Texte, durch die nachvollziehbar wird, wie durch die Entdeckung des innersten Persönlichkeitskerns eine Überwindung der schrecklichen Erlebnisse möglich ist.