Wie Kinder gedeihen. Internationaler Kleinkindkongress in Dornach

Sven Saar

Authentischer Enthusiasmus klingt aus seinen Worten, als er die im großen Saal des Goetheanums Versammelten daran erinnert, dass der in Waldorfeinrichtungen lebende pädagogische Ansatz weltweit der einzige ist, der junge Menschen von der Geburt bis zum Erwachsensein begleitet.

Auch Michaela Glöckler glaubt man es sofort, wenn sie zur Eröffnung des Kongresses ins Publikum schaut und strahlend sagt: »Dies ist unverhohlen die schönste Arbeitszusammenkunft, zu der ich hier begrüßen darf!« Das lässt sich nachvollziehen: Man stelle sich die Atmosphäre in einem Saal vor, in dem über 600 Menschen sitzen, die fast ausschließlich mit Babys und Kleinkindern arbeiten. Es herrscht eine natürliche Frische, in den Pausen gibt es viel Gelächter und bei keiner Tagung sieht man so wenige Raucher wie bei dieser. Die Teilnehmer – unter ihnen etwa drei Dutzend Männer – kommen aus 29 verschiedenen Ländern. Anders als bei der Lehrertagung ist der Löwenanteil aus Deutschland und der Schweiz, und doch spürt man in den Gängen einen eindrucksvoll internationalen Geist.

In den Arbeitsgruppen wird hochkonzentriert geforscht. Vielleicht liegt es daran, dass Erzieherinnen von ganz jungen Kindern besonders authentisch sein müssen, oder dass sie es gewöhnt sind, wie ihre Schützlinge ganz in einer Aktivität aufzugehen – jedenfalls ist die tiefe Ernsthaftigkeit auffallend, mit der hier um Erkenntnis gerungen wird. Keinem ist es peinlich, zum Zweck der Sinneserforschung wie Kleinkinder barfuß im Gras zu krabbeln.

Voller Ehrfurcht werden Fußwaschungen durchgeführt und einfühlsam Fallbeispiele für Elterngespräche diskutiert. Auch die Vorträge sind trotz des sommerlichen, zur Pause einladenden Wetters voll besucht.

Was Emmi Pikler mit Steiner gemein hat

Am ersten Abend stellt Anna Tardos den Ansatz der ungarischen Kinderärztin Emmi Pikler (1902-1984) vor, deren Gedanken und Erfahrungswerte die Praxis in Waldorftagesstätten und Kinderkrippen zunehmend beeinflussen. Gibt es auch deutliche Unterschiede zwischen Steiner und Pikler, so ist doch beiden ein tiefer, grundlegender Respekt für die Individualität des Kindes gemeinsam. Erzieherinnen in beiden Arten von Einrichtungen begegnen ihren Zöglingen mit Andacht und einer Art Ehrfurcht vor dem sich entwickelnden Menschen, die in dieser Altersgruppe nur wirken kann, wenn sie tief und echt empfunden wird. Die liebevolle Sorgfalt, die sich in dieser Pflege ausdrückt, hinterlässt bleibende Spuren bei den Kindern: Diese werden, so sind sich alle Vortragenden einig, dereinst mit ihren eigenen Kindern so umgehen, wie sie es selber erfahren durften. »Wir erziehen in den Kindern auch die folgende Elterngeneration«, sagte Kindergärtnerin Birgit Krohmer in ihrem Impulsbeitrag.

Resonanzerlebnisse

Der inhaltliche Schwerpunkt der Tagung liegt auf der Persönlichkeit des sich mit dem Kinde beschäftigenden Erwachsenen. Wir können unsere Vorbildfunktion gar nicht ernst genug nehmen, meint Initiatorin Claudia Grah-Wittich: »Wir müssten sehr lange üben, um die Kinder so genau zu beobachten, wie sie es mit uns tun. Das Kind formt sich selbst an der Betrachtung seines Umfeldes.« Der bekannte Neurobiologe und Psychotherapeut Joachim Bauer formuliert das in seinem Vortrag so: »Psychologie wird Biologie!« Einzigartig wichtige Bereiche im Gehirn des Menschen, so das Selbstwahrnehmungs- und das Motivationszentrum, bilden sich erst in den Jahren nach der Geburt heraus. Dies geschieht nachweislich anhand der Eindrücke und Resonanzen, die das Kind durch andere Menschen erfährt: Beuge ich mich über die Wiege des Säuglings, so reagiere ich beinahe unwillkürlich, indem ich seine Mimik oder Gestik kopiere. Für das Baby ist das eine wichtige Rückmeldung, denn es erhält von mir dadurch eine Validierung, fühlt sich wahrgenommen und wertgeschätzt. Nun beginnt es damit, mich zu imitieren, und es entwickelt sich zwischen uns eine zarte, sehr intime Wechselbeziehung, die für die seelische, aber auch für die leibliche Entwicklung des Kindes von entscheidender Bedeutung ist.

Viele neurobiologische Studien belegen inzwischen den Wert dieser Resonanzerlebnisse und bestätigen, dass die Waldorfkrippen, mit ihrer Betonung der persönlichen Begegnung zwischen Kind und Erzieher, wertvollste Arbeit leisten. Jetzt, da die gesellschaftliche Akzeptanz der Wiegestuben (auch in der Waldorfwelt) einigermaßen abgesichert ist, ist die dringendste Herausforderung, die staatlichen Stellen von der Notwendigkeit einer Personalanhebung zu überzeugen, damit die hohe Qualität der Versorgung gewährleistet werden kann. Das präzise und liebevolle Beobachten des Kindes gibt diesem nicht nur wertvolle Resonanz, sondern befähigt die Erwachsenen auch dazu, die Entwicklung ihrer Schutzbefohlenen mit Geduld zu begleiten und Fortschritte nicht zu forcieren, sondern abzuwarten. Die amerikanische Erzieherin Susan Weber beschreibt dies als »Selbstzündungsaugenblick«: Wir respektieren die Würde des kleinen Kindes nicht, wenn wir es zwingen, durch von uns erdachte Reifen zu springen, sondern nur dann, wenn wir ihm erlauben, wichtige Schritte in den für seine Biografie richtigen Momenten zu tun.

Kinderkrippen gehören zum Leben

Den Impuls, aus Waldorf-Erkenntnissen heraus mit dem sehr jungen Kind zu arbeiten, gibt es seit etwa 15 Jahren. Der erste Kongress, der im Jahr 2001 am Goetheanum stattfand, war von leidenschaftlichen Kontroversen geprägt. Sollte man durch ein attraktives Angebot Eltern überhaupt ermutigen, ihre Kinder so früh in eine Einrichtung zu geben? Sollten sie nicht eher bis zum Kindergarteneintritt daheimbleiben? Wessen Rechte zählen mehr – die der Mutter oder die des Kindes? Man geht inzwischen deutlich entspannter mit dem Thema um. Dass Mütter bald nach der Geburt wieder in den Beruf einsteigen, ist in einem solchen Maße gesellschaftliche Realität, dass man die Waldorfpädagogik zu Recht als weltfremd bezeichnen müsste, würde sie sich der neuen Herausforderung nicht stellen. Die heutige Frage ist nicht mehr nach dem »Ob«, sondern nach dem »Wie«.

Im Abschlussplenum weist der Krankenpfleger Rolf Heine auf den Zusammenhang zwischen Erziehung und Pflege hin und es drängt sich die Frage auf, ob für die im Rahmen dieses Kongresses besprochenen Tätigkeiten die Berufsbezeichnung »Erzieher/-in« auch nur ansatzweise passend sein kann. In den Waldorfkrippen entwickeln sich die Kinder ganz natürlich, geführt und versorgt von zarter Hand. An ihnen »zieht« hier niemand. Was wäre wohl ein besserer Begriff? Müsste man einen neuen erfinden? Mir erscheint in Anlehnung an Rudolf Steiners Grundsteinspruch für die erste Waldorfschule das Wort »Kinderpfleger/-in« mehr als angemessen. ‹›

Zum Autor: Sven Saar ist Klassenlehrer an der Freien Waldorfschule Wahlwies in Stockach.

www.pikler-verband.org | www.der-hof.de/2/5/1/  |  www.psychotherapie-prof-bauer.de