100 Jahre anthroposophische Kunst

Matthias Mochner

Es liegt im Wesen der Anthroposophie, dass sie auf verschiedenen Lebensfeldern Kunst wird. Waldorfpädagogik ist Erziehungskunst. Auch für die Bildenden und die Darstellenden Künste besteht diese Verwandlungsmöglichkeit. »Überall, wo aus wahrer künstlerischer Gesinnung Kunst herausgebildet wird«, erklärte Rudolf Steiner am 12. September 1920 in dem Vortrag »Der übersinnliche Ursprung des Künstlerischen«, »ist die Kunst ein Zeugnis für das Zusammenhängen des Menschen mit den übersinnlichen Welten«. Der Mensch müsse zu einer Kunst übergehen, »die das Übersinnliche unmittelbar darstellt«. Er brauche – so Steiner weiter – Kunst als einen wahren Beweis »für die menschliche Unsterblichkeit und für das menschliche Ungeborensein«, »damit das Bewußtsein sich hinaus erweitert über den Horizont, der begrenzt ist durch Geburt und Tod«.

Anthroposophische Kunst lässt sich als Kunst an der Schwelle zur geistigen Welt charakterisieren. »Ich betrachte es als Ziel«, formulierte die Künstlerin Yvonne von Miltitz (1907-1997), »etwas aus dem Bereich einzufangen, der nicht sinnlich wahrnehmbar ist und dennoch in der Sinneswahrnehmung aufleuchten kann, wenn diese über sich selbst hinausgehoben wird. Ich möchte in einem Bild wandern wie in einer Landschaft, aber in einer Landschaft mit anderen Dimensionen«.

Von dem polnischen Maler jüdischer Abstammung Stanislas Stückgold (1868-1933) weiß man, dass er malte, was er schaute, indem er hebräische Psalmen singend in den nächtlichen Sternhimmel blickte, bis dieser verschwand. Der Bildhauer Paul Schatz (1898-1979), in Halle mit einem interessanten Schachspiel vertreten, veröffentlichte 1926 sein Buch »Der Weg zur künstlerischen Gestaltung in der Kraft des Bewusstseins«, und schrieb einen noch heute lesenswerten Aufsatz über »Wege und Abwege des Künstlers im Lichte der Initiation«.

Der Begriff »Aenigma« (»Geheimnis«, »Rätsel«) weist auf eine Künstlergruppe zurück, die Rudolf Steiner im Jahr 1918 um einen Namen bat. Die Ausstellung lässt die hohe Qualität und individuelle Vielseitigkeit anthroposophischer Kunst spürbar werden, ebenso, dass man sie – die oft ironisch belächelte, ja diskreditierte – eigentlich noch gar nicht richtig kennt. Erstaunlich unterschiedliche künstlerische Techniken wurden praktiziert, andere neu geschaffen. Die Ausstellung zeigt, was Menschen, deren Biographien kaum bekannt sind, künstlerisch schufen und was sich – trotz Verlust, Verfolgung und Zerstörung – an schöpferischen Zukunftsimpulsen erhielt, ja bis in die Gegenwart lebt. Das ist überwältigend. Für diese Menschen waren Rudolf Steiners Anregungen für einen neuen Kunststil geistiges Schulungsmaterial.

Auch Max Wolffhügel (1880-1963), der Waldorflehrer, dessen Tafelbilder religiöser Motive legendär sind, ist vertreten. Das pädagogische Arrangement eines anthroposophischen »Kinderzimmers« vermittelt, dass dem Kind ein adäquater Entwicklungsraum geschaffen wird – ihm gegenüber steht das »Zimmer des Geistesforschers«. In dieser Polarität überspannt die Kunst tatsächlich, wie von Steiner angeregt, Geburt und Tod.

Die Ausstellung war zunächst im Kunstmuseum Olmütz/ Tschechien zu sehen. Dort erlebte ich einmal, wie ein Kleinkind sich strahlend den Händen der Mutter entwand und mit begeistertem Geschrei in dieses, »sein« Kinderzimmer hineinlaufen wollte, wo zwei liebevoll organisch gestaltete Puppenstuben von Karl Hald (1890-1975) neben Kindermöbeln von Bernhard Weyrather (1886-1946), aber auch frühes Holzspielzeug und ein weißes Frauenkleid mit farbiger Stickerei, Gürtel und Beutel nach Entwurf von Theodor Ganz (1896-1956) zu sehen sind.

Ebenso kostbare Ziehbilderbücher von Hilde Langen (1901-1979), »Schneeweißchen und Rosenrot« etwa, die zu Beginn im Waldorf-Spielzeug & Verlag Stuttgart erschienen. Zu Recht sind im Kunstmuseum Halle Schülerarbeiten der dortigen Waldorfschule ausgestellt. Denn wer anthroposophische Kunst sucht, findet ihre Keime und Spuren auch heute noch in Waldorfschulen. Anthroposophische Kunst erschließt sich nicht über bekannte Sehgewohnheiten. Sie ist nur aus sich selbst heraus zu verstehen. Das Neue und Zukunftsfähige in ihr beginnt zu sprechen, lässt man sich unbefangen darauf ein. Die Frage des individuellen künstlerischen Zugangs zum Geistigen kann ein Motiv sein, um sich in der großartigen Ausstellung zu orientieren. Man bemerkt, dass die Künstlerinnen und Künstler, so unterschiedlich sie auch sind, etwas Gemein­sames verbindet – und das scheint die Liebe zur Anthroposophie zu sein.

In konkreter Weise sprechen die Werke von dem Berührt-Sein durch das Geistige. Man stößt auf die Erscheinung des Christus im Ätherischen – nicht plakativ, sondern verborgen – und die Begegnung mit dem Doppelgänger des Menschen. Man vertiefe sich einmal in das Max Wolffhügel zugeschriebene Bild »ohne Titel«, das einen Menschen in großer Dunkelheit auf einer Bergspitze stehend umgeben von Naturgewalten zeigt, oder Werner Dietrichs (1907-1995) Ölbild von 1929 – ebenfalls »ohne Titel« – mit drei grellbunten Gesichtern. Der Aufbruch des Individuums in die Moderne wird bewusst in das Geistige geführt. Einen kleinen Ausschnitt nur kann die Ausstellung zeigen. Hinter jedem Werk stehen ganze Welten: Albert Steffen (1884-1963) schuf fast 2000 Aquarelle, Gerard Wagner (1906-1999) über 4000 Werke.

Man denke an Beppe Assenza (1905-1985) – und alle diejenigen (gewiss über hundert), die – wie der Bildhauer Erich Glauer (1903-1987) oder der Künstler Wilfried Ogilvie (*1929) – in die Ausstellung aus Platzgründen nicht aufgenommen werden konnten.

Es ist ein 400-seitiger Katalog erschienen – die Ausstellung dauert bis zum 25. Oktober 2015.

Zum Autor: Matthias Mochner ist freier Journalist, Redakteur der Zeitschrift »Mensch und Architektur« und Vorstandsmitglied des Internationalen Forum Mensch und Architektur.