»ADHS« – eine erfundene Krankheit

Manfred Schulze

Als sich auch keine Fehlfunktion des Gehirns finden ließ, wichen die Ärzte und Pädagogen auf den seelischen Bereich aus und sprachen vom POS. Das »Psycho-Organische Syndrom« war der dritte erfolglose Versuch, aus einem gut beschreibbaren sozialen Phänomen – der besonderen Beanspruchung Erwachsener durch »schwer erziehbare« Kinder – ausschließlich eine Krankheit von Kindern zu machen.

Bei einer soziologischen und historischen Betrachtung wäre schon früher festzustellen gewesen, dass das System von Erziehung und Schule heute statt mit der Prügelstrafe mit subtileren Formen der strukturellen oder psychischen Gewalt aufrecht erhalten wird. Die Schule ist der mächtigste Übermittler der sozialen Erwartungen in der Leistungsgesellschaft. Sie ist kein von Verwertungszwecken freier Schutzraum, sondern die harte Abbildung der Erfolgs- und Konkurrenzgesellschaft. Dazu werden global formulierte Vorgaben der Wirtschafts- und Marktideologie, wie etwa von der OECD, durch eine willfährige Bürokratie umgesetzt. Immer engmaschiger greifen vom Sprachlerntest im Kindergarten bis zum Zentralabitur die Effizienzmuster des Wirtschaftsdenkens in den Unterricht ein. Mit den pädagogisch untauglichen Mitteln von Stundenplan, Hausaufgaben, Zensuren und ständigen Leistungsüberprüfungen wird bei Lehrern, Erziehern, Eltern und Kindern ein Dauerstress eingeübt. Ein latenter Seelennotstand ist zum psychischen Standard geworden.

Kinder, die sich diesem Druck entziehen, deren Aufmerksamkeit man mit den herkömmlichen Mitteln nicht gewinnen kann und deren Bewegungsdrang in der Schule nicht zu befriedigen ist, führen zu immer stärkeren Störungen der vorherrschenden Sitz- und Belehrungsdidaktik. Das geschieht alles im Widerspruch zu der klaren medizinischen Erkenntnis von der heilsamen und damit unverzichtbaren Dimension der körperlichen Bewegung. Da also bislang kein organisches, kein funktionales und kein seelisches Defizit klar zu definieren und zu diagnostizieren war, wird die Krankheitszuweisung für die Unruhestifter nun als Aufmerksamkeitsdefizit (ADD; attention deficit disorder) und Überaktivität (ADHS) beschrieben. Damit sind wir mit der Problembeschreibung bei den höchsten Bewusstseinsleistungen des personalen Menschen angelangt: seiner wachen Bewusstseinslenkung und seiner autonomen Handlungssteuerung.

Die andere Perspektive

Es ist eine gern geübte Kritik, dass die Werbung und die Marketingstrategien unsere Aufmerksamkeit gewinnen wollen und damit versuchen, auch unsere Kaufentscheidungen zu bestimmen. Autonome Aufmerksamkeit und autonome Willenssteuerung ist im Marktmechanismus nicht vorgesehen. Der totale Markt kennt keinen mündigen Verbraucher oder gar einen Verbraucherschutz. Die schon gültigen internationalen Wirtschaftsabkommen sind im Gegenteil darauf angelegt, einen Rechtsschutz für Investitionen von Unternehmen festzulegen, weil Verbraucherschutzgesetze den Absatz gefährden könnten.

Diese Gesinnung hat inzwischen sozial reale Form angenommen. Die Total-Ökonomisierung des Lebens hat neue »Haltungsbedingungen« für den Menschen erschaffen.

Statt sich diesem Zugriff der Ökonomie auf die freie Bildung des Geistes zu widersetzen, öffnen sich Schulen und Bildungssysteme immer stärker dieser Beeinflussung. Wir sind im Begriff, die Freiräume einer umfassenden und vom lernenden Subjekt mitbestimmten Qualität von Bildung einem funktionalen und mit ökonomischen Vorgaben vorbestimmten Kanon von Kompetenzen zu opfern. Ein wahrer Bildungsbegriff ist jedoch offen – offen gegenüber den Inhalten und offen im Zeit- und Lebenslauf. Der gebildete Mensch entzieht sich der Kontrolle, weil er selbst zu lernen gelernt hat und damit seine mentalen Fähigkeiten schult und weil er selbst bestimmt, was er lernt, und damit der Bevormundung entgeht! Selbst initiierter Lernwille hört nie auf. Für die aus dem wirtschaftlichen Verwertungsge­danken entsprungenen Kompetenzen muss man hingegen noch eine Oberkompetenz »lebenslanges Lernen« erfinden, weil Kompetenzen im ökonomischen Wettlauf verfallen.

Diesem Strukturwandel von der Schule als Bildungsort zu einem Trainingslager der Kompetenzen durch Fremdbestimmung der jeweils als erfolgreich geltenden »skills« durch »coaches« wohnen wir gerade bei. Und: Störer fliegen aus der Mannschaft! Da erweist es sich als konsequent, die unaufmerksamen und unruhigen Kinder als Störer dieses Systems zu lokalisieren und durch Verlegung in eine Sonderschule oder medikamentös »auszuschalten«.

Hirnforschung oder Hirnschaden

Dieser Konstruktion einer Krankheit zur Stabilisierung des Verwertungssystems menschlicher Ressourcen kommt nun mit einer ultimativen Konsequenz die Erfindung des »lernenden Gehirns« entgegen. Kaum eine »Entdeckung« wurde so populär und von Pädagogen so euphorisch begrüßt wie die »Erfindung« des Gehirns als lernendes Organ. Nun endlich weiß man, wie »es« funktioniert! Dazu treten Hirnforscher mit einem lückenlosen Determinismus auf den Plan und liefern ein Menschenbild ab, in dem nun »das Gehirn« das Subjekt aller Wahrnehmungen und Taten sein soll, in dem der Wille von Nervenfunktionen gesteuert wird und die Aufmerksamkeit ein Gehirnstrompotenzial ist. Da hat sich das Gehirn der Hirnforscher ohne den Menschen selbstständig gemacht.

Ein wenig Wissenschaftsgeschichte macht deutlich, dass Sätze in Biologiebüchern, die vormals mit dem Subjekt »Die Natur« oder »Die Evolution« oder »Die Gene« begannen, jetzt mit »Das Gehirn« beginnen. »Das Gehirn ›sieht‹ und ›tut‹, ›freut sich‹, ›lernt‹ und ›denkt‹. Es gibt keine menschliche Regung oder kulturelle Errungenschaft, für die nicht irgendein Neuroforschungsbuch als neues Subjekt »Das Gehirn« einsetzt. Dadurch entsteht ein seltsam automatisches Geisterland, in dem durch die philosophisch-grammatische Unbedarftheit der Hirnforscher ein Weltbild geschaffen wird, in dem »die Evolution« »das Gehirn« erschafft und dann dieses Gehirn die gesamte menschliche Kultur. Und das geht in diesem lückenlos kausalen Zauberland alles ohne Beteiligung der Erkenntnisse, Urteile und Entscheidungen des bewussten Menschen. Warum ein derartiger »Gehirnmechanismus« als Menschenfunktionsmodell von vielen Pädagogen bejubelt werden kann, bleibt nur dann ein Rätsel, wenn man darin nicht schon den Verlust des autonomen Bildungsbegriffes und des autonomen lernenden Subjektes erkennt. Kein Hirnforscher wüsste, was die von ihm gemessenen Hirnpotenziale denn für den bewussten Menschen »bedeuten«, wenn er die Begriffe der Bedeutungsebene nicht vorher als bewusster Mensch gelernt hätte und den Zusammenhang mit den beobachteten Hirnprozessen als mentale Denkleistung und Zuweisung seiner Forschung herstellte. Die Tragik dieser denkschwachen Hirnforschung besteht darin, dass sie diese Bedeutungstätigkeit ins Gehirn »hineindeutet« – im Bilde gesprochen, die Transistorfunktionen des Radios mit dem Sinn der Nachrichten verwechselt.

Der Mensch definiert sich rückwirkend durch die Mechanismen, die er geschaffen hat. So erschafft nicht der Mensch das Auto, sondern er verdankt ihm seine Mobilität. Diese Mobilität »fordert« dann (so die immer benutzte gruselige Grammatik!) Verkehrsopfer, die wohl wie in einem archaischen Glaubenssystem dem Gott der Mobilität dargebracht werden müssen. Und der Mensch wird so zu dem, was er denkt, das er ist. Und dann ist das Gehirnpotenzial gleich Aufmerksamkeit und der Botenstoff ist die Motivation, dann ist das Beruhigungsmittel identisch mit seelischer Ruhe und Red Bull gleich wach und stark. Man ist dann sogar dem Medikament wie einem »chemischen Wesen« dankbar, weil das Kind endlich ruhig lernen kann und systemangepasst leistungsfähig ist.

Nach diesem Denken scheint es geboten, die schulische Ruhestörung mit einem chemischen Mittel aufzuheben. Der vormals »minimale Gehirnschaden« wird durch seine dreifache grammatische Umdeutung von einem nicht nachweisbaren Organfehler zu einer medizinisch immer noch nicht nachweisbaren, aber gesellschaftlich akzeptierten Aufmerksamkeits- und Willenskrankheit. Dort, wo das ADHS erforscht wird, taucht es auch häufiger auf.

Die Krankheit des Systems

Kann es sein, dass dieses Gesellschafts- und Schulsystem selber krank ist? Wir leisten uns zur Stabilisierung dieses Systems ein milliardenteures Sonderschulsystem zum Aussondern der Kinder, die da nicht mitkommen und zu deren gesichertem Abstieg in die Refugien des Langsamlernens. Wir leisten uns ein milliardenteures Schattenschul- und Nachhilfesystem, in dem prosperierende Wirtschaftsunternehmen den Klassenerhalt der Schüler versprechen und teuer verkaufen. Dazu kommt das milliardenteure pharmakologische Hilfsprogramm zur Störungsbeseitigung durch medikamentöse Stillsitzbefähigung, mit dem man die Aufmerksamkeit wieder auf den vom Lehrplan vorbestimmten Stoff richten kann. Ein viertes Stütz- und Hilfssystem ist deshalb notwendig. Um die mit oder ohne Medikament dem Kompetenzlernen in einer Fünfzigstundenwoche dienenden Kinder nicht vollends zu ruinieren, werden Entspannungsprogramme und Wellnessübungen integriert – bei den Nachhilfefirmen gleich dazuzubuchen! Um an der erlebnis- und bewegungsarmen Darbietung der Schulstoffe nicht zu verhungern, ersinnt man nachmittägliche Freizeitprogramme in der Ganztagsschule oder eine Freizeit in den Ferien bei den Events der Erlebnispädagogik.

Dabei sollten unsere Kinder doch nicht für ein Leben nach der Schule lernen, sondern jetzt leben und atmen können!

Zeit für eine ökologische Bildungsrevolution

Wir brauchen eine ökologische Bildungsrevolution, die die leibliche und geistige Gesundheit der Kinder und nicht deren späteres Gehalt im Fokus hat. Dazu braucht man vielfältige lebendige Vorbilder. Wenn wir Bildungsorte schaffen, an denen die Elemente und Naturreiche gepflegt und entwickelt werden, an denen die Kinder besinnlich und tätig sein können und im Tätigsein selber lernen, an denen sie Menschen bei sinnvoller Arbeit beiwohnen können, an denen eine zukünftige kooperative Lebensgestaltung mit Tieren, Pflanzen und der Erde gefördert wird, dann könnte viel Unruhe aus den Kinderseelen entweichen, weil lebenswürdige Zukunftsbilder entstehen. Dann ist das »wahr«! Wahrheit ist nicht die möglichst naturgetreue Abbildung von etwas schon Geschaffenem, sondern die Fähigkeit, die konstruktiven oder destruktiven Folgen meiner Taten vorauszusehen und sich dann für das Lebendige zu entscheiden. Darin liegt die Einheit des Weges, der Wahrheit und des Lebens. Denn es sind die menschlichen Jugendkräfte, die Systeme verwandeln. Wer aber will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, oder dass sie eine große Maschine wird, will wohl nicht, dass sie lebendig bleibt. Diese Zerstörung der Kindheitskräfte ist eine Technik des Bösen.

Ach ja: Bei einer Befragung von hundert Waldorfhortnerinnen gab es nur drei Waldorfschulen, an denen es das unsinnige, leidige, zeitfressende und beziehungsstörende Hausaufgabensyndrom nicht gab. Da kann man dann vielleicht mal anfangen, dem Kontroll- und Verwertungssystem ein Stück weit zu entsagen!

Zum Autor: Dr. Manfred Schulze arbeitet als Erzieher und Landwirt. Als Erziehungswissenschaftler und Mitbegründer der »Arbeitsgemeinschaft Handlungspädagogik« arbeitet er an der Zusammenführung von Pädagogen und Landwirten zur gegenseitigen Befruchtung von praktischer Pädagogik und bäuerlicher Landwirtschaft.