»Amerika ist an allem schuld«

Markus Schulze | Viele der Autoren, die Sie als Verschwörungstheoretiker bezeichnen, fühlen sich diskreditiert. Der Begriff diene nur dazu, sie mundtot zu machen. Ist es nicht tatsächlich problematisch, unbequeme Stimmen derart abzukanzeln?

Tobias Jaecker | Aufklärung und Kritik an politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen sind zweifelsohne wichtig. Verschwörungstheorien sind aber das glatte Gegenteil davon. Deren Anhänger gehen nicht offen an Ereignisse wie den 11. September oder den Ukraine-Krieg heran. Im Gegenteil: Die vermeintlichen Drahtzieher stehen für sie von Beginn an fest. Und das sind immer die Amerikaner. Denn die profitierten von der Entwicklung, könnten sich neue Rohstoffmärkte einverleiben und Machtbereiche erschließen. Zu dieser These werden dann eine Vielzahl vermeintlicher Beweise gesammelt. Was nicht ins Weltbild passt, wird ignoriert oder als »Propaganda« abgetan. Das hat mit Kritik nichts mehr zu tun, sondern ähnelt eher einer selbsterfüllenden Prophezeiung.

Hans Hutzel | Verschwörungstheorien werden vor allem über den 11. September verbreitet und stehen damit automatisch im Zusammenhang mit dem Antiamerikanismus. Wie erklären Sie sich diesen Zusammenhang?

TJ | Verschwörungstheorien bauen immer auf gesellschaftlich verbreiteten Ressentiments auf. Über Jahrhunderte standen dabei »die Juden« im Fokus, seit langem auch die USA. Der Antiamerikanismus wird zwar dadurch befeuert, dass die USA eine Weltmacht sind und ihre Interessen mitunter rücksichtslos durchsetzen. Das kann man selbstverständlich kritisieren. Problematisch ist der Automatismus, mit dem auf Amerika gezeigt wird. Man wähnt sich als kritischer Geist und glaubt, es geblickt zu haben: Amerika ist schuld – und wir sind nur die Opfer. Das ist bequem und dient der Selbstentlastung. Von der Weltfinanzkrise bis zum Ukraine-Krieg: Das sind alles keine amerikanischen Erfindungen, da sind Deutschland und die EU genauso drin verstrickt. Damit umzugehen, fällt Vielen offenbar schwer.

MS | Sie haben über Antiamerikanismus promoviert und in diesem Zusammenhang die deutschen Medien untersucht. Was sind Ihre wesentlichen Erkenntnisse?

TJ | Es ist ein Ressentiment, das bis weit in den medialen Mainstream hinein verbreitet ist. Beim Thema Amerika glauben selbst Menschen, die sich als fortschrittlich bezeichnen, mit gutem Gewissen vom Leder ziehen zu können. In meiner Analyse habe ich die typischen Merkmale des antiamerikanischen Argumentationsmusters herausgearbeitet. Zum einen werden alle möglichen negativen oder unliebsamen Entwicklungen auf Amerika projiziert, ob Finanzkapitalismus, politische Krisen oder kulturelle Phänomene. Damit einher geht eine moralische Selbstaufwertung, so dass ein dualistisches Bild entsteht: Dort die gefährlichen, profitgierigen, oberflächlichen und dekadenten Amerikaner – hier die uneigennützigen, friedliebenden und kultivierten Europäer.

In zugespitzter Form kommt dann noch ein ausgeprägtes Verschwörungsdenken hinzu. In dieser Sicht regiert Amerika die ganze Welt. In Deutschland wirkt zudem die Geschichte nach. Die Massenauswanderung nach Amerika im 19. Jahrhundert, die Niederlage in zwei Weltkriegen, die Jahre unter der alliierten »Schutzmacht« – da ist bei Vielen ein ambivalentes Gefühl entstanden. Sie fühlen sich gedemütigt, machen die USA für alle Übel verantwortlich und neiden ihnen zugleich ihre Stärke.

HH | Gibt es in Deutschland diesbezüglich eine Entwicklung seit dem 11. September?

TJ | Der Antiamerikanismus hat sich seitdem in der ganzen Gesellschaft verfestigt. Selbst krudeste Verschwörungstheorien werden immer populärer. Spätestens seit den sogenannten Montags-Mahnwachen gegen den Ukraine-Krieg erlebt die Szene einen Boom. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums werden AfD, Pegida und Co. immer stärker. Zwischen beiden Seiten hat sich eine regelrechte Querfront gebildet, deren verbindender Kitt antiamerikanische Verschwörungstheorien sind. Ob es um den Absturz des malaysischen Flugzeugs über der Ukraine, die Anschläge auf Charlie Hebdo oder die Pariser Terrorwelle im vergangenen November geht: Hinter all diesen Ereignissen vermuten die selbsternannten Skeptiker die USA. Selbst die vielen Flüchtlinge, die jetzt zu uns kommen, führen sie auf einen angeblichen Plan der Amerikaner zur Destabilisierung Europas zurück.

MS | Es gibt doch aber auch politische Entwicklungen, die berechtigte Kritik an der US-Politik hervorrufen. Zum Beispiel Abu Ghraib, Guantanomo oder die NSA-Überwachung …

TJ | Um es ganz klar zu sagen: Eine Kritik an diesen Vorgängen hat mit Antiamerikanismus nichts zu tun. Problematisch wird es erst, wenn das Handeln der eigenen Regierung ausgeblendet wird. Beispiel NSA: Inzwischen wissen wir, dass der BND mit seinen vergleichsweise bescheidenen Mitteln ebenfalls massenhaft nach Daten fischt und mit der NSA austauscht. Das läuft bis heute so weiter, weil die deutschen Sicherheitsbehörden es so wünschen. Wo bleibt hier der gesellschaftliche Aufschrei? Wo bleiben die Großdemonstrationen? Eins ist doch klar: Wir können nur etwas an den Verhältnissen ändern, wenn wir es hier vor unserer Haustür tun. Wir müssen demokratisch dafür kämpfen. Aber das ist Vielen zu mühsam. Sie zeigen lieber mit dem Finger auf andere und richten sich behaglich in ihrer ressentimentgeladenen Weltsicht ein.

HH | Welche Rolle spielen dabei das Internet und die sozialen Medien?

TJ | Immer mehr Menschen informieren sich fast nur noch per Facebook oder Youtube über die Weltlage. Ich möchte diese Medien überhaupt nicht verdammen, im Gegenteil: Es ist gut, dass wir heute vielen Dingen mit ein paar Mausklicks selbst auf den Grund gehen können und nicht nur die redaktionell ausgewählten Meldungen der Zeitungen zu Gesicht bekommen. Problematisch erscheint mir aber, dass Viele ihre Filter-Bubble überhaupt nicht mehr verlassen. Sprich: Sie treiben sich nur noch auf bestimmten verschwörungstheoretischen Seiten oder Youtube-Kanälen herum und lesen nur noch Texte, die ihnen ihre Netz-Kontakte empfehlen. Alternative Sichtweisen nehmen sie gar nicht mehr wahr. Da ist eine regelrechte Parallelwelt entstanden, in der man sich in seiner Meinung nur noch gegenseitig bestärkt und hochschaukelt. Alles andere wird als »Mainstream« oder »Lügenpresse« abgetan.

MS | Aber es ist doch durchaus sinnvoll, den Mainstream zumindest zu hinterfragen. Was ist notwendig, um zu einem selbstständigen Urteil zu kommen?

TJ | Wichtig erscheint mir, wirklich neugierig und offen zu sein – und den antiamerikanischen Marktschreiern nicht auf den Leim zu gehen. Denn die haben ihre Antworten längst. Unsere Massenmedien möchte ich keinesfalls in den Himmel loben. Ich habe ja selbst erforscht, wie viele Ressentiments sie transportieren. Aber es gibt auch viele Journalisten, die hervorragende Arbeit leisten. Die deutschen Medien sind vielfältiger, als die Verschwörungstheoretiker behaupten. Die Kritik an Amerika, die sie immer wieder so lautstark einfordern, die ist dort doch zuhauf zu finden.

HH | Sie waren selber Waldorfschüler. Wie beurteilen Sie im Nachhinein die Rolle der Schule für die politische Urteils­bildung?

TJ | Jugendliche müssen besser lernen, mit den neuen Medien kritisch umzugehen und nicht alles gleich zu glauben, was in einem Youtube-Video als vermeintliche Wahrheit offenbart wird. Fakten sind nicht gleich Fakten, sondern müssen mit anderen Aussagen abgewogen, eingeordnet und bewertet werden. Allzu einfache Antworten sollten erst einmal stutzig machen. Und: Demokratisches Engagement kann etwas bewirken, auch wenn es mühsam ist. Das muss besser vermittelt werden.

MS | Das sind alles Punkte, die nicht nur die Waldorfschulen betreffen …

TJ | Die sehe ich vor besonderen Herausforderungen. Denn oftmals überlappen sich verschwörungstheoretische und gewisse esoterische Sichtweisen. Da die Esoterik auch in der Anthroposophie eine wichtige Rolle spielt, ist hier Wachsamkeit geboten. Der Glaube an verborgene Mächte, die unsere Geschicke bestimmen, kann sich in einer diffusen Ablehnung konventioneller Wissenschaft und politischen Verschwörungstheorien niederschlagen. Dem müssen die Waldorfschulen offensiver entgegentreten. Zugleich sollte Kritik nicht gleich abgebügelt werden – ob es nun um rassistische und antisemitische Äußerungen geht oder um die Verbreitung von Verschwörungstheorien jedweder Couleur. Eine Haltung, als ob man im alleinigen Besitz der Wahrheit sei und die unwissende Welt da draußen das nur noch nicht verstanden habe, ist für die Entfaltung einer freien Debatte und damit für die politische Urteilsbildung nicht gerade förderlich.

Tobias Jaecker ist Kommunikationswissenschaftler, Journalist und Autor. Er arbeitet als Redakteur bei radioeins in Berlin. In zwei Büchern untersuchte er antisemitische Verschwörungstheorien sowie den Antiamerikanismus in den deutschen Medien seit dem 11. September 2001. Jaecker besuchte die Waldorfschule Köln. Markus Schulze ist Oberstufenlehrer an der Freien Waldorfschule Köln und Hans Hutzel Lehrer an der Emil Molt Akademie Berlin.

Literatur: T. Jaecker: Hass, Neid, Wahn. Antiamerikanismus in den deutschen Medien, Frankfurt 2014; Ders.: Antisemitische Verschwörungstheorien nach dem 11. September. Neue Varianten eines alten Deutungsmusters, Münster 2004; Siehe auch: Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung, Erziehungskunst 10/2015 und die daran anschließende Kontroverse in Heft 12/2015.