Ausgebildet, aber nicht erzogen

Philipp Gelitz

Bildung ist zurzeit eines der zentralen politischen Themen. Um eine Erziehung der Kinder geht es bei den Debatten in den seltensten Fällen. Wer genau hinhört, stellt vielmehr fest, dass es vor allem darum geht, »Humankapital« für die Wirtschaft heranzubilden und dabei zugleich die Eltern so weit als möglich in das Erwerbsleben einzugliedern.

Wenn es gut läuft, wird vom Kind her argumentiert: »Wir müssen den Kindern Angebote machen, damit sie nicht zu Hause vorm Fernseher sitzen oder auf der Straße herumlungern!« Meistens geht es jedoch um die Erwachsenen: »Wir müssen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie fördern!« oder: »Wir brauchen jeden Einzelnen – Kinder sind die Zukunft unseres Landes!«. Kinder müssen früh gebildet werden – am besten acht bis neun Stunden täglich –, wir müssen ihr Potenzial ausschöpfen – so früh wie möglich –, und wir müssen ihnen in der KiTa und in der Schule alles bieten: Zoobesuch, Schwimmen, Kochen, Sexualkunde, Bewerbungstraining oder Anti-Konflikt-Training.

IHK-Funktionäre beklagen sich über unbrauchbare Jugendliche

Wer genauer hinhört, bemerkt, dass es um die Ressource Mensch (Humankapital) geht. Eine Talkshow weiter wird nämlich vor einem Fachkräfte-Mangel in ein paar Jahren gewarnt. IHK-Funktionäre beschweren sich über Azubis, die nicht ausbildungsfähig seien, weil sie weder normale Umgangsformen noch Pünktlichkeit zu kennen scheinen und erhebliche Rechtschreibprobleme hätten.

Das ist aber in erster Linie kein Problem der Jugendlichen, für das wir uns mit Anteilnahme interessieren, sondern ein Problem für die Wirtschaft. Denn die »unbrauchbaren« Jugendlichen sind die fehlenden Fachkräfte von morgen. Auch die schlechte Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird nicht von den Nöten der betroffenen Familien her diskutiert, geschweige denn von denen der Kinder, sondern vom Bedarf der Wirtschaft her. Man erkennt daran, dass es um die Verwertbarkeit von Bildung geht. Bildung rangiert dann eindeutig vor Erziehung. Obwohl eine ganzheitliche Erziehung eigentlich von alleine an alle relevanten Bildungsinhalte heranführt.

Am Wesentlichen wird vorbei geredet

Niemand kommt heute mehr auf die Idee zu fragen, ob wir uns vielleicht einmal Gedanken machen müssen über Teilzeit für Väter, damit Mama nicht zum Leidwesen ihrer Kinder beweisen muss, dass sie genau so ein Workaholic sein kann wie Papa, sondern damit beide Elternteile ihr berechtigtes Interesse an beruflicher Tätigkeit, die sehr viel zu Selbstbewusstsein und Anerkennung vieler Menschen beiträgt, mit der Verantwortung für eine Familie verbinden können.

So viel wird über Ganztagsbetreuung für die Kleinen und ganz Kleinen und Ganztagsschulen für die Größeren, über Angebote und Förderung geredet, dass völlig aus dem Blick gerät, ob die einzelnen Familien das überhaupt wollen. Es entsteht ein gewaltiger gesellschaftlicher Sog, sich mit der Frage nach der Ganztagsschule und Kleinkindbetreuung auseinanderzusetzen.  Eine bewusste Entscheidung der einzelnen Familien, was sie für ihr Kind wollen, wird immer schwieriger. Vergessen ist die Skepsis gegenüber dem Bildungssystem der DDR! War ja schließlich auch nicht alles schlecht damals. Sieben bis 17 Uhr Kindergarten? Heute überall Alltag, auch westlich der Elbe. Industrialisierung der Erziehung? 24-Stunden-KiTas – auch das gibt es.

Da ist es beim Abholen in den schönen Holzgarderoben der Waldorfkindergärten oder auf dem Schulhof beim Sommerfest in der Waldorfschule noch vergleichsweise angenehm, Vollzeitmutter zu sein – oder Vollzeitvater, was freilich immer seltener vorkommt. Im Anthroposophen-Umfeld ist man ja gegenüber volkswirtschaftlich nicht ganz so produktiven Menschen meistens eher wohl gesonnen – wobei es übrigens auf lange Sicht volkswirtschaftlich viel produktiver ist, seine Kinder anständig zu erziehen. Hinter vorgehaltener Hand fragt man sich dann aber doch, wie lange die wohl noch zuhause bleiben wird? »Ich mein’, Ihr Jüngster ist doch immerhin schon acht! Jetzt, wo es auch mehr Nachmittagsangebote gibt – warum eigentlich nicht? Malte wird’s bestimmt gefallen in der Trommel-AG und ein bisschen Abwechslung mit Arbeitskollegen würde ihr bestimmt auch nicht schaden!«.

Es ist ein Phänomen unserer Zeit, mit dem wir uns als Eltern, Lehrer und Erzieher auseinandersetzen müssen. Viele Kindergärten und Schulen tun das auch: Es gibt kaum eine Konferenz, die ohne diese Themen auskommt. Was aber auf die richtige Fährte führt im Umgang mit frühkindlicher Bildung, Ganztagsangeboten, Förderung hier und Förderung da, ist eine Besinnung auf das Wesentliche der Erziehung.

Es geht um das Kind

Das Kind kommt auf die Welt und ist erst einmal völlig hilflos. Es kann gerade einmal alleine atmen. Es kann seine Körpertemperatur nicht halten, es kann nur Muttermilch verdauen, es kann nicht gehen, es kann nicht sprechen und es kann nicht denken. Es ist in der Folge auf die wahrhafte Liebe seiner Eltern angewiesen, auf die Pflege, die aus dieser Liebe resultiert, und es ist auf seine Eltern als gehende, sprechende und denkende (jawohl!) Vorbilder angewiesen, um überhaupt ins Leben starten zu können. Später ist es angewiesen auf liebevolles Verständnis beim Trotzen, auf nachahmenswerte lebenspraktische Handlungen wie Kochen, Backen und Socken stopfen und auf liebevolle Konsequenz der Erwachsenen sich selbst und dem Kind gegenüber. Es ist angewiesen auf Märchen und Lieder, auf Langeweile, auf andere Kinder, auf Lehrer, die ihm erzählen, dass das F vom Fisch kommt, auf Leier, Goethe, Theater und Referate. Aber gleichzeitig braucht es Eltern, die zufrieden sind. Und das sind sie unter Umständen nur, wenn sie berufstätig sind. Also doch 19 Jahre lang von 7 bis 17 Uhr professionelle Erzieher, damit zuhause alle zufrieden sind?

Wir befinden uns inmitten einer gesellschaftlichen Debatte, die längst zu einem Selbstläufer geworden ist, inmitten einer Flut von Erziehungsratgebern und Therapiemöglichkeiten und inmitten einer Bewusstseinskrise aller modernen und aufgeklärten Eltern, in der man sich zwangsläufig befinden muss, wenn man zu jeder Kartoffelsorte fünf Alternativen hat. Um sich nun zu einer Entscheidung im Sinne seiner Kinder durchzuringen, ist es nötig, sich einmal die verschiedenen Ebenen von Bildung und Erziehung zu vergegenwärtigen, um von dort aus bewusster handeln zu können.

Kinder gedeihen in Liebe und Zuwendung

An erster Stelle steht die unverwechselbare Individualität des einzelnen Kindes. Um sich als Individuum würdig entfalten zu können, braucht das Kind in erster Linie Liebe und Zuwendung. Das ist die primäre Aufgabe der Erziehenden, dass sie dem Kind ein seelisch warmes Umfeld bereiten. Nur so können sich Selbstvertrauen und Widerstandskraft entwickeln und nur so kann das Kind seine mitgebrachten Fähigkeiten je nach Lebensalter entfalten. Das ist das Erste. Das ist wichtiger als Holzspielzeug und Bio-Essen.

Den Alltag wieder mit Sinn erfüllen

Daneben gilt es, das tägliche Leben zu gestalten und dabei auf das Alter des Heranwachsenden und die Sinnhaftigkeit des täglichen Tuns und Lassens zu achten. So ist es sinnvoll und altersgemäß, sich als Jugendlicher im Kino zu amüsieren oder zusammen mit vierjährigen Kindern Korn zu mahlen, Teig zu kneten und Brötchen zu backen. Diese Ebene bezieht Fragen nach einem sinnvoll gegliederten Tagesablauf zu Hause, im Kindergarten und in der Schule ein. Hier stellen sich Fragen nach der Qualität von Spiel- und Lernmaterialien, nach der Wahl der Nahrungsmittel, deren Zubereitung oder nach geregelten Essenszeiten. Das kann dazu führen, dass nicht ständig der Fernseher läuft, dass es im Waldorfkindergarten kein Lego und in Waldorfschulen Epochenunterricht und Stricken für alle gibt. Es ist die Ebene, in der Eltern auf den Rat der Kindergärtnerin hören, im Interesse ihres Kindes auf den Elternabend gehen und ihr Radio herunterdrehen.

An Kulturtechniken heranführen

Schließlich gibt es den konkreten Umgang mit den Kindern in einer bestimmten Situation, der von einem Bildungsziel des Erwachsenen herrührt. Es ist hilfreich, sich einmal klar zu machen, dass es dabei nicht um das Bedürfnis des Kindes geht. Eltern dürfen verlangen, dass sich ihre Kinder die Zähne putzen, die Füße vom Tisch nehmen und ihre Mathematikhausaufgaben machen. Dabei geht es aber nicht darum, ihnen ein altersgemäßes Umfeld zu bereiten, sondern darum, sie an mitteleuropäische Kulturtechniken heranzuführen. Hierzu zählen neben der sozialen Kompetenz, das Lese-, Schreib- und Rechenvermögen, Sauberkeit und künstlerische Fähigkeiten.

Am wichtigsten sind Freude und Zufriedenheit

Auf allen Gebieten sollten die Eltern darauf achten, wie zufrieden sie sind. Es nützt einem Kind nichts, wenn es zu Hause mit bestem selbst gekochtem Demeter-Essen zur immer gleichen Uhrzeit verwöhnt wird, wenn der Tagesablauf geregelt ist und es jeden Abend Geschichten erzählt bekommt – die Mutter oder der Vater aber nicht mit Freude bei der Sache sind! Ist Freude und Zufriedenheit im Spiel, dann befinden wir uns immer zu großen Teilen in direktem Kontakt mit der Individualität, der durch Liebe, Zuwendung, seelische Wärme vermittelt wird. Da kann auch einmal eine Tiefkühlpizza dazwischen kommen – die Zufriedenheit gleicht das wieder aus.

Auf das eigenständige Urteil kommt es an

Das Wichtigste ist, dass Eltern selbst entscheiden. Bei einer Allgegenwart medialer Meinungsbildung und der Ratschläge von Verwandtschaft und Nachbarschaft ist das nicht ganz einfach. Aber das Kind wird es danken, wenn es wegen Mama und Papa länger im Kindergarten bleiben darf, und nicht wegen Anne Will und anderen Meinungsmachern länger bleiben muss! Diesen Bewusstseinsprozess sind wir unseren Kindern schuldig, auch als Vorbild für eigenständige Meinungsbildung und Selbstbestimmung!

Zum Autor: Philipp Gelitz, Jahrgang 1981, staatlich anerkannter Erzieher und Waldorferzieher, Ausbildung am Rudolf-Steiner-Institut in Kassel, Kindergärtner im Waldorfkindergarten Celle, Vater einer Tochter.