Das System muss sich anpassen, nicht die Kinder. Für eine Inklusion mit Augenmaß

Reinald Eichholz, Manfred Trautwein

Die im Jahr 2006 von den Vereinten Nationen verabschiedete Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ist einer großen, menschheitlichen Intuition entsprungen. Jeder Mensch soll das Recht auf aktive Teilnahme am Leben der Gemeinschaft haben, niemand vom Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung ausgegrenzt werden. Größte moralische Fantasie muss entwickelt werden, damit das große Ziel mit den Möglichkeiten der äußeren Realität in Übereinstimmung gebracht werden kann. Es geht um die Aufgabe, im Spannungsfeld von Geist und Materie das Leben in Freiheit zu meistern.

Individualität fördern

Eines der größten Hindernisse in der gegenwärtigen Diskussion besteht darin, dass Inklusion in der Schule zu einer durch äußere Vorgaben eingeengten Unterrichtsform geschrumpft ist. In den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz vom 20. Oktober 2011 wird im Blick auf das Ziel, gemeinsames Leben und Lernen zu ermöglichen, zwar ausdrücklich hervorgehoben, dass den »individuellen Bildungs- und Erziehungsbedürfnissen sowie dem Leistungswillen Rechnung zu tragen« sei. Maßgebend bleiben aber »für die schulische Bildung und Erziehung aller … allgemeine Bildungsstandards und Lehrpläne …« Dadurch entsteht ein Bild eines gemeinsamen Unterrichts, bei dem letztlich von den Abschlüssen her gedacht wird – das genaue Gegenteil der Forderung, dass nicht die Kinder sich ans System, sondern das System sich an die Kinder anzupassen habe. Gemeinsamen Unterricht in diesem Verständnis mit Inklusion gleichzusetzen, greift deshalb zu kurz.

Dabei geht verloren, dass gemeinsames Lernen sich gerade dadurch entfaltet, dass die Kinder und Jugendlichen unabhängig von vorgegebenen Abschlüssen mit ihren individuellen Entwicklungszielen zusammen sind, und sich durch ihre Verschiedenheit die Chance ergibt, jedes auf seine Art zu fördern.

Institutionen erhalten

Dies von der »Regelschule« zu erwarten, in der Kinder und Jugendliche mit Behinderungen, stundenweise unterstützt von Förderlehrern, mitunterrichtet werden, ist weltfremd. Diese »Regelschule« wird nie bieten können, was heute Fördereinrichtungen leisten. Die derzeitige politische Tendenz, die »Regelschule« in den Mittelpunkt zu stellen und den Fördereinrichtungen zwar verbal eine Bestandsgarantie zu erteilen, zugleich aber über die Vorgabe von Schülerzahlen zu bewirken, dass immer mehr Einrichtungen aufgeben, ist nicht der von der Behindertenrechtskonvention angestrebte Systemwandel. Vielmehr sind in einem behinderungsgerechten System Kompetenz und Ausstattung der Heilpädagogik unverzichtbar. Der Übergang dahin lässt sich nicht durch Schließung von Einrichtungen erreichen, sondern nur, indem der Entwicklungsprozess im Dialog aller beteiligten Einrichtungen zusammen gestaltet wird.

Sofern nicht Kindergärten und Schulen von Anbeginn inklusiv gegründet werden, kann es in dieser Situation nur um einen Prozess der Annäherung an die Vision der Behindertenrechtskonvention in einer Vielzahl kleiner Schritte gehen, also um die allmähliche Verflechtung und Weiterentwicklung der bestehenden Einrichtungen.

Barrieren überwinden

Hilfreich ist es, hier auf den Ausgangsimpuls der Behindertenrechtskonvention zurückzugehen, das Gefühl gesellschaftlicher Zugehörigkeit konkret erlebbar zu machen. Dazu darf man in der Schule nicht nur auf den Unterricht blicken, sondern muss das Zusammenspiel aller Lebensprozesse sehen, die die Kinder verbinden. Im alltäglichen zwischenmenschlichen Umgang eröffnet sich die Chance, dass die vielfältig bestehenden Barrieren allmählich fallen. Seien dies innerseelische Barrieren und gesellschaftliche Wertprägungen, die im heutigen Leben noch allgegenwärtig sind, oder Barrieren durch die über Jahrzehnte gewachsenen Strukturen. Vor allem aber geht es um die Auflösung von Barrieren, die durch staatliche Vorgaben entstehen, indem ein defizitorientiertes Denken Grundlage aller Finanzierungskonzepte ist. Schließlich müssen aber auch fachliche Dilemmata bewältigt werden, die erschweren,

unterschiedlichem Lern-, Förder- und Entwicklungsbedarf gerecht zu werden. Die sorgfältige Auseinandersetzung auch mit der Genese dieser Barrieren ist eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass die gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten entstehen können, die die Grundlage der Inklusion bilden.

Zugehörigkeit entwickeln

Trotz all dieser Hindernisse kann es in der täglichen Praxis weiterführen, wenn man nicht vergisst, dass aller Unterricht nur ein Ausschnitt des Schullebens ist – und im Erleben der Kinder und Jugendlichen manchmal durchaus nicht der wichtigste. Was auf dem Schulweg, in den Pausen, auf Wanderungen oder in den Gruppen und Grüppchen von Freunden und Freundinnen geschieht, ist für das Gefühl der Zugehörigkeit nicht weniger wichtig als der Unterricht. Man kann sogar sehen, wie dieser alltägliche Umgang zu einer entscheidenden Stütze auch des Unterrichts wird, wenn er Selbstvertrauen, Tatbereitschaft und Empathie vermittelt. Voraussetzung dafür ist freilich, dass die Schule als Lebensort für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung bewusst gestaltet wird.

Erst so entsteht ein umfassendes Bild des Lebens und Lernens im Kindergarten und in der Schule, und damit kann man einem fundamentalen Einwand gegen die Inklusion begegnen. Denn Widerstände ergeben sich nicht nur angesichts der heute völlig unzureichenden Umsetzungsbedingungen. Gewichtiger noch ist der Einwand, dass es in der Tat an der Realität vorbeigeht, Kinder jedweder Begabung und Kinder mit Behinderungen jeden Schweregrades in einem gemeinsamen Unterricht erreichen zu wollen. Es braucht eine Vielfalt von ›Settings‹, nicht nur kleinere Klassen, ein pädagogisches Team mit auch förderpädagogischer Kompetenz, wesentlich differenziertere räumliche Möglichkeiten und besondere Vorkehrungen für Kinder mit Behinderungen.

Vor allem muss ein ganzes Szenarium differenzierter Lernangebote entstehen, die Entfaltungsmöglichkeiten gerade auch bieten, wo ein gemeinsamer Unterricht an seine Grenzen stößt. Wenn am Lebensort Schule im Alltag die Grundlagen der Inklusion gelegt sind und sich dort alle Kinder und Jugendlichen begegnen und beheimatet fühlen, ergibt sich zugleich die Möglichkeit, vielfältige Lernszenarien auch in unterschiedlichsten Gruppierungen zu gestalten, ohne den Gedanken der Inklusion zu verraten. Auch geschützte Rückzugsräume können dabei helfen.

Auch da müssen die Kinder mit Behinderungen aber keineswegs unter sich sein, denn Stille und Rückzug sind Bedürfnisse, die zuzeiten alle Kinder haben. Deshalb kann die Arbeitsgruppe für die mathematischen Überflieger ebenso stattfinden, wie die behutsame heilpädagogische Förderung eines schwer geistig behinderten Kindes – immer vorausgesetzt, dass die Begegnung im Alltag möglich ist.

Voneinander lernen

Die Waldorfkindergärten, Waldorfschulen und die heilpä­dagogischen Schulen bieten dafür eine unvergleichliche Chance. Die Tatsache, dass sie alle auf der Menschenkunde Rudolf Steiners aufbauen, ist ein unschätzbares Gut für die Entdeckung von Gemeinsamkeiten und zugleich für deutlich differenzierte pädagogische oder therapeutische Ansätze, die sich je nach Konstitution, Lern- und Unterstützungsbedarf für das einzelne Kind oder Gruppen von Kindern aus der gemeinsamen Menschenkunde ergeben. In der Zusammenschau von Waldorfpädagogik und Heilpädagogik kann deutlich werden, dass jedes Kind im Ergreifen seiner Welt auf seine Weise Lernschritte tun kann – aber auch jedes Kind braucht ›heilende Unterstützung‹‚ weil alle auch mit existenziellen Lebenswiderständen ringen müssen.

Perspektiven

Im Vordergrund der praktischen Arbeit des Arbeitskreises steht die Begleitung des Projekts »Entwicklungsimpulse durch inklusive Pädagogik«. Hier sehen wir einen Weg, die aus Waldorfpädagogik und Heilpädagogik entspringenden Impulse zu verbinden und in konkreter Zusammenarbeit mit »Projektschulen« Wege zu einer inklusiven Praxis zu erkunden.

Projektschulen sind bisher die Schulen in Überlingen, Konstanz, Bexbach, Trier, Erftstadt, Hamm, Erlangen, Braunschweig, Ottersberg, Hamburg Bergedorf, Hamburg Altona, Kaltenkirchen, Rendsburg und die Karl-Schubert-Schule in Leipzig. Weitere Schulen haben sich auf den Weg gemacht, um die Begegnung von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Behinderungen zu fördern.

Zu den Autoren: Dr. Reinald Eichholz ist Jurist und ehemaliger Kinderbeauftragter der Landesregierung Nordrhein-Westfalen und Manfred Trautwein ist Geschäftsführer des Bundesverbandes anthroposophisches Sozialwesen e.V. und ehemaliger Lehrer und Geschäftsführer der Bettina-von-Arnim-Schule in Marburg.

* Der Arbeitskreis ist ein vom Bund der Freien Waldorfschulen, der Vereinigung der Waldorfkindergärten und dem Bundesverband anthroposophisches Sozialwesen berufenes Beratungsgremium.