Der »Hirntod« – eine Erfindung der Transplantationsmedizin

Paolo Bavastro

2012 ist das neue Transplantationsgesetz verabschiedet worden. Ziel des Gesetzes ist es, »die Bereitschaft zur Organspende zu fördern«. Die Bevölkerung soll »ergebnisoffen« aufgeklärt werden. Liest man die Texte, die bisher von den Kassen verschickt worden sind, die Broschüren der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) sowie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), stellt man fest: es geht nicht um Aufklärung, sondern um Propaganda pro Organspende. In der zweiten Jahreshälfte wurden skandalöse Zustände bei der Organvergabe, bei der DSO und der Organentnahme bekannt. Von offizieller Seite wird bis heute beteuert, es handle sich lediglich um Einzelfälle: Die Skandale offenbaren aber gravierende Systemfehler.

Die Lebenszeichen der für tot Erklärten

In Analogie zum medizinischen Sprachgebrauch müssten wir anstatt von »Hirntod« korrekterweise von irreversiblem Ganz-Hirnversagen sprechen. Durch vielfältige Ursachen kann das Gehirn unwiederbringlich zerstört werden; ein Zustand, der sich innerhalb von Stunden oder Tagen zum Vollbild der Erkrankung entwickelt. Das Gehirn erträgt im Unterschied zu anderen Organen die Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr nur wenige Minuten.

Der Patient im Hirnversagen ist ein tief komatöser, beatmeter Patient ohne wachrationales Bewusstsein, da Klein-, Groß- und Stammhirn zerstört sind – so jedenfalls die Definition. Das Atemzentrum und somit die Spontanatmung sind ausgefallen. Der Patient erhält keine sedierenden oder narkotisierenden Medikamente. Stammhirngebundene Reflexe sind erloschen, etwa der Lid- und Hustenreflex. Die Pupillen reagieren nicht mehr auf Lichtreize. Schutzreflexe auf Schmerzreize sind nicht zu provozieren. Rückenmarks-Reflexe sind aber noch vorhanden, etwa der Sehnenreflex am Knie oder die Erektion beim Mann. Insgesamt sind noch mehr als zehn Reflexe auslösbar.

»Auch nach Eintreten des Hirntodes können Bewegungen der Extremitäten auftreten« (DSO), etwa das »Lazarus-Zeichen« – eine umarmungsartige Bewegung: »Ein solcher Befund findet sich bei bis zu 75 Prozent aller Hirntoten«, gibt die DSO an. Reflexe sind Lebensphänomene, unabhängig vom Ort ihrer Entstehung. Ein Toter, eine Leiche, hat keine Reflexe! Befürworter der »Für-Tot-Erklärung« behaupten: Es seien nur Reflexe, daher sei der Mensch tot. Diese »Logik« entspricht einer »Ethik des Wegdefinierens«, so der Ethiker Axel Bauer, und ist eine Entmündigung der Wahrnehmung, so der Philosoph Robert Spaemann. Patienten im Hirnversagen zeigen viele Lebensvorgänge, die integrative Funktionen haben: innere Atmung (Gasaustausch zwischen Blut und Gewebe), Zellatmung, Blutdruckregulierung, spontane Herztätigkeit, Temperaturregulierung, Ausscheidungen (Urin und Stuhl), Stoffwechselvorgänge sowie Hormonausschüttung und -bildung, Blutbildung und -gerinnung.

Die hochkomplexen Nerven- und Immunsysteme im Bauch sind intakt und haben ebenso wie das Kreislauf-System lebensnotwendige integrative Funktionen. Falsch ernährt, können diese Patienten Durchfall oder Verstopfung bekommen, sie können geimpft werden, Wunden heilen. Sexuelle Reifung und proportionales Wachstum sind bei Kindern vorhanden. Sie können unkoordinierte, vegetative Reaktionen zeigen, wie Hautrötungen, Schwitzen und Kontraktionen von Muskelgruppen: Diese Phänomene beschreibt die Biologie korrekterweise als zum Leben gehörig. Wie gravierend solche Funktionen gestört sind, zeigt uns den Schweregrad der Erkrankung an: Ein Schwerst-Kranker, ein Sterbender ist aber phänomenologisch ein Patient, nicht ein bereits Toter.

Eine maschinelle Beatmung ist nur bei einem Lebenden möglich: ein Toter kann nur »aufgeblasen« werden, da die Luft nicht wieder ausgeatmet wird und der Gasaustausch zwischen Lunge und Blut nicht mehr stattfindet.

Narkose bei »Hirntoten«?

Bei »hirntoten« Patienten sehen wir Lebenszeichen des vegetativen Nervensystems: Es steuert vom Willen unabhängige, innere Lebensvorgänge, wie beispielsweise den Puls, Blutdruck, die Drüsen. Werden »Hirntote« zur Organentnahme einer Operation unterzogen, zeigen sie vegetative Reaktionen, die jeder Mensch unter Operationsbedingungen auch zeigt: Der Hautschnitt des Chirurgen bewirkt, trotz Narkose, einen unbewusst erlebten Schmerz. Dadurch wird der Puls beschleunigt, der Blutdruck erhöht sich deutlich, die Ausschüttung der Stresshormone wird um ein Vielfaches gesteigert; bei passivem Hochheben des Kopfes steigen Puls und Blutdruck. »Hirntote« zeigen unter Narkose weitere Reaktionen, die Lebenserscheinungen sind.

Solche Äußerungen gehören phänomenologisch zweifelsohne zum Leben – ein Toter zeigt solche Reaktionen nicht. Bei einer Sektion wird keine Narkose vor der Eröffnung des Leichnams gemacht.

Die oben beschriebenen Lebenszeichen sind Reflexe, aber wodurch werden sie ausgelöst? Sie deuten auf eine tief unterbewusste Schmerz-Wahrnehmung des »Hirntoten« hin. Sollen »für tot« erklärte Menschen, die trotz Narkose solche Lebenserscheinungen zeigen, tot sein? Eine absurde Vorstellung! Wissenschaftlich korrekt ist lediglich die Aussage, dass wir nicht wissen, ob und was Menschen im Zustand des Hirnversagens spüren oder wahrnehmen; eine Wahrnehmung allein aufgrund einer Definition auszuschließen, ist unredlich. Um diese Lebenserscheinungen eines sterbenden Patienten auszuschalten, werden Organe unter Teil- oder Vollnarkose, oder auch »nur« unter Ausschaltung der Muskelreflexe entnommen; diese Patienten werden bei der Organentnahme festgeschnallt – dies, obwohl »Hirntote« als tot definiert wurden und mit Totenschein in den OP gebracht werden: »Von Kadavern wurde bislang noch nicht berichtet, dass sie bei Sektionen hätten narkotisiert oder angeschnallt werden müssten«, bemerkt zynisch der Theologe Manfred Balkenohl. Die Notwendigkeit einer Narkose wird von den Befürwortern des »Hirntodes« vehement bestritten, in der Literatur jedoch diskutiert – in manchen Ländern, wie beispielsweise in der Schweiz, sogar vorgeschrieben. Meist wird sie »organprotektive Therapie« genannt, um darüber hinweg zu täuschen, dass es sich um die Behandlung von Lebenden handelt. Die Tatsache, dass Frauen im Hirnversagen eine Schwangerschaft austragen können, widerspricht grundsätzlich dem »Hirntod-Konzept«. Menschen im Hirnver­-sagen sind schwerstkranke Sterbende, aber noch nicht Verstorbene. Organentnahme ist ohne Zweifel die Tötung eines Sterbenden. Eine Tötung kann nicht gerechtfertigt werden – auch nicht, wenn sie zu einem »guten« Zweck erfolgt, nämlich zum Nutzen des Organempfängers.

Um eine Tötung durch Organentnahme zu umgehen, hat man den Zustand des Hirnversagens im Hirntod-Konzept zum Tod erklärt. Dies geschah 1968 durch die Harvard Medical School, kurz nach der ersten Herztransplantation in Südafrika. Im Jahr 1997 hat die Bundesärztekammer die Argumente für das »Hirntod-Konzept« bekräftigt: »Die Entnahme eines lebensnotwendigen Organs ist aus ärztlicher Sicht nur dann erlaubt, wenn bei dem möglichen Spender – unbeschadet der Erfüllung weiterer Voraussetzungen – der Tod festgestellt wird. Die Spende eines lebenswichtigen Organs durch einen Lebenden, mithin auch durch eine sterbende Person verlangt vom Arzt eine Tötung zugunsten Dritter und ist mit dem ärztlichen Ethos nicht zu verein­baren. Den Hirntod nicht als Todeskriterium zu akzeptieren und gleichwohl Organentnahme nach diesem Zeitpunkt durchzuführen, widerspricht grundlegend der Ethik ärzt­lichen Handelns.« Der Arzt »muss daher auf Transplantationen lebensnotwendiger Organe verzichten«, so die Ärztekammer am 14. Juli 1997.

Einen Sterbenden im Hirnversagen deshalb für tot zu erklären, um bei der Organentnahme eine Tötung zu umgehen, stellt eine utilitaristische, willkürliche Setzung dar, die mit Redlichkeit als Voraussetzung für jede ethische Betrachtung nicht zu vereinbaren ist.

Kann man den Ganz-Hirntod überhaupt feststellen?

Was besagt das »Hirntod-Konzept«? Alle Funktionen von Groß-, Klein- und Stammhirn müssen unwiederbringlich erloschen sein. Im Harvard-Konzept war noch eine komplette Areflexie gefordert. Diese hätte aber die Zahl der Spender extrem reduziert, daher wurde sofort nach 1968 nur die »Gehirnareflexie« definiert. Im Transplantationsgesetz heißt es: »Die Bundesärztekammer stellt den Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaften in Richtlinien fest für die Regeln zur Feststellung des Todes … und die Verfahrensregeln zur Feststellung des endgültigen, nicht behebbaren Ausfalls der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms« (§ 16). Dementsprechend formuliert die Ärztekammer: »Der Hirntod wird definiert als Zustand der irreversibel erloschenen Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms.« Wie soll dieser Zustand nach den Regeln der Bundesärztekammer festgestellt werden?

Tiefes, nicht von Medikamenten induziertes Koma muss vorliegen. Wo aber genau Bewusstsein im Gehirn zu lokalisieren ist, wissen wir nicht. Ein Koma sagt nichts aus über Ort und Ausmaß der Schädigung. Die aufgelisteten Reflexe, die getestet werden müssen, sind allesamt lediglich Hirnstammreflexe. Ein EEG (Ableitung der Gehirnströme) ist obligatorisch nur bei der sehr seltenen infratentoriellen primären Hirnschädigung. Zudem gibt das EEG die elektrische Aktivität der obersten Millimeter der Hirnrinde wieder, tiefere Areale werden nicht erfasst. Der obligatorische Apnoe-Test (es wird geprüft, ob noch eine Spontanatmung vorhanden ist) soll den Ausfall des Atemzentrums beweisen: Dieses kann aber schon bei Schädigungen des oberen Rückenmarks ausfallen. Laut Ärztekammer soll dieser Test als letzte Untersuchung durchgeführt werden: Er kann letzte funktionsfähige Areale schädigen. Die Durchführung dieses Tests ist nach den Regeln, die sonst in der Medizin gelten, aufklärungs- und zustimmungspflichtig!

Weitere Tests sind nicht vorgeschrieben, können bei Unklarheiten aber gemacht werden. Auch bei aufgehobener Zirkulation in der Gefäßdarstellung im Röntgen lassen sich oft noch mittels Doppler-Sonographie Flüsse im Gehirn feststellen: Eine Doppleruntersuchung müsste zur Pflicht gemacht werden. Das Testen der hervorgerufenen Potenziale soll den Ausfall des Hirnstamms belegen, kann aber bei Hirnstammschädigung laut DSO nicht durchgeführt werden … Die Funktion des Kleinhirns kann nicht getestet werden. Letztlich kann nur ein SPECT-CT (eine spezielle Technik der Computertomographie) eine gewisse Sicherheit geben. Das wird aber aus Kostengründen nicht gemacht.

Die meisten hormonellen Funktionen und Ausschüttungen, die zum Hirnstamm gehören, sind beim »Hirntod« intakt oder nur leicht gestört. All diese Funktionen müssten ausgefallen sein, wenn man als Bedingung des Hirntodes den kompletten Ausfall des Hirnstamms fordert. Stattdessen wird behauptet, noch vorhandene hormonelle Regelkreise würden nicht gegen einen »Hirntod« sprechen.

Wir müssen also feststellen, dass die Bedingungen, die im Gesetz gefordert werden und die die Ärztekammer formuliert hat, nicht erfüllbar sind. Die Tests können weder die geforderte Sicherheit liefern, noch den Ausfall des gesamten Gehirns beweisen. De facto haben wir in Deutschland die Situation, dass man eine gravierende Schädigung des Stammhirns nachweisen kann. Über das Großhirn ist eine Aussage äußerst eingeschränkt möglich, über das Kleinhirn ist keine Aussage möglich. Es gilt faktisch lediglich das Teil-Hirntod-Konzept – eine sehr beunruhigende Situation!

In der Diagnostik stellen wir eine Erkrankung, einen Zustand fest: Durch ein Röntgenbild wird festgestellt, dass seit dem Sturz ein Knochenbruch vorliegt. Wir stellen einen präexistenten Zustand fest. Bei der »Hirntod-Diagnostik« entsteht der Zustand (Tod) durch die Diagnostik selbst, die Setzung »Hirntod ist gleich tot« entsteht erst durch die Diagnostik. Das Sollen bestimmt also das Sein. Die Transplantationsmedizin basiert auf zwei Lügen: der »Hirntod« sei der Tod des Menschen und das Konzept des »Ganz-Hirn-Todes« sei anwendbar.

Wir haben gesehen, dass beide Voraussetzungen nicht erfüllt werden. Lügen sind keine tragfähige ethische und menschenkundliche Grundlage.

Literatur beim Verfasser: E-Mail: p.bavastro@t-online.de