Der langsame Pfeil der Schönheit

Jürgen Raßbach

Die Verbindung des Städtchens Werder zu Morgenstern gründet auf dem weitgehend unbemerkt gebliebenen Besuch eines »lustigen Kreises« im April 1895. Von Berlin aus, wo der junge Morgenstern seit einem Jahr als Autor lebte und arbeitete, fielen sechs junge Leute ins Städtchen ein, angeführt von Morgenstern, dessen erster Gedichtband »In Phanta’s Schloss« soeben Furore gemacht und eine begeisterte Reaktion des jungen Rilke ausgelöst hatte. Die sechs jungen Leute, zu denen Friedrich Kayssler und Fritz Beblo gehörten, entdeckten den Galgenberg und gründeten hier, inspiriert von der Aura der ehemaligen Richtstätte (der süffige Obstwein tat sein Übriges) den legendären Bund der Galgenbrüder. In Hinterzimmern wechselnder Berliner Kneipen inszenierten sie im Laufe der nächsten zwei Jahre einen grotesken Ritus und sangen (zur Gitarre) die rasch entstehenden Galgenlieder, an deren Publikation zuerst gar nicht gedacht war.

Als dann 1905 die erste Auflage erschien, löste sie eine begeisterte Reaktion aus, auf der Morgensterns Ruhm bis heute noch basiert. Morgenstern hat die ästhetische Konzeption dieser im deutschen Lyrikraum einmaligen Texte ständig weiterentwickelt und philosophisch angereichert; die dazu erfundenen Figuren Palmström, von Korf, Palma Kunkel und der Gingganz bezeichnen diesen Weg.

Der Humor, der sich in diesen geist- und kunstvollen »dummen kleinen Schmetterlingen, die auf der Wiese geistiger Freiheit gefangen« sind, ausspricht, war »transzendental und von »seraphischer Heiterkeit«; der in ihm waltende antibürgerliche und subversive Grundgestus richtete sich – darin Morgensterns sogenannter seriöser oder ernster Dichtung durchaus vergleichbar – gegen den im wilhelminischen Kaiserreich mit Macht voranschreitenden Materialismus, dem eine gleichgeschaltete Staatskirche die verlogene Weihe verlieh.

Von der Schule tödlich gelangweilt

Auf einen merkwürdigen Sachverhalt sei hier näher eingegangen. Dass es im Bereich der Waldorfschulen zahlreiche Morgenstern-Schulen gibt, steht in nur scheinbar schroffem Gegensatz zu den vernichtenden Urteilen, die der Dichter selbst über die Institution Schule gefällt hat. Am 6. Mai 1871 in eine Münchner Malerfamilie geboren, wuchs er als Einzelkind auf und verlor, nach knapp zehn glücklichen Jahren, seine geliebte Mutter. Sie starb an Lungentuberkulose. Morgenstern blieb ihr auf tragisch-spirituelle Weise lebenslänglich durch das »Leidenserbe«, das bei ihm 1892 erstmals auftrat, verbunden. Die Familien zerbrach und Christian kam zuerst zu Verwandten nach Hamburg, dann in ein Landshuter Internat, bis ihn der wiederverheiratete Vater nach Breslau holte, wo er das Magdalenen-Gymnasium besuchte und dann, nach einer einjährigen Unterbrechung (er wollte tatsächlich Offizier werden), im niederschlesischen Sorau (Zary) das Abitur ablegte.

Damals notierte er: »Wenn ich jetzt, da ich das deutsche Gymnasium endgültig zu verlassen hoffe, einen Rückblick auf den Weg werfe, den ich zurückgelegt, so kann ich denselben kurz in folgende Momente zusammenfassen: Zuerst hat mich die Schule zur Unaufrichtigkeit verleitet, sodann hat sie meine Sittlichkeit gefährdet, darauf hat sie mich durch absolute Nichtachtung und Verhöhnung meiner Individualität verbittert und verdüstert, zuletzt hat sie mich tödlich gelangweilt.« Dieses vernichtende Urteil korrespondiert mit den Darstellungen Hermann Hesses (»Unterm Rad«), Thomas Manns («Buddenbrooks«) und Robert Musils (»Die Verwirrungen des Zöglings Törleß«) und lässt keinen Zweifel an der schweren Schuld, die die deutsche Schule auf sich geladen hat; den vorläufig literarischen Schlusspunkt setzen Alfred Andersch (»Die Kirschen der Freiheit«) und vor allem Heinrich Böll (»Wanderer, kommst du nach Spa …«). Morgenstern findet auf ganz eigene Weise einen Ausweg aus diesem kulturell-pädagogischen Desaster: »Fast alles, was ich geworden bin, verdanke ich mir selber, einigen Privatpersonen und dem Zufall. Von irgendeiner organischen Kultur um mich herum, die das Einzelindividuum zu benutzen und systematisch auszubilden vermocht hätte, spürte ich nie etwas. Weder Eltern noch Lehrer noch irgendwer hat mich je kraftvoll in die Hand genommen und im großen Sinn erzogen. Und wenn ich, ein Mensch von ursprünglich glänzender Begabung, alles in allem ein Dilettant geblieben bin, so hat die Hälfte der Schuld daran gewiss die Unsumme von Dilettantismus, von Halbheit und Kulturlosigkeit, die ich überall gefunden habe, wohin mich auch meine bewegte Jugend geführt hat.«

Unerschöpfliches Reservoir humanen Menschentums

Was ihn rettete und letztlich auf einen Weg führte, der uns mit Ehrfurcht erfüllen kann, waren seine großen Erzieher: »… der Schmerz, meine Kunst, mein unerbittliches Denken, und Menschen, in Büchern chiffrierte oder lebendige«, zuvörderst die guten Freundinnen und Freunde, an denen er lebenslang und unverbrüchlich festhielt, auch wenn sie ihm nicht immer zu folgen vermochten. Seine »Liebe erweckende Gemeinschaftsseele«, aber auch sein Interesse am Anderen, seine Treue und Verschwiegenheit sowie die »Reinheit seines Wesens« ließen ihn bereits als jungen Menschen zum zentralen Ansprechpartner für viele werden. Es liegt deshalb eine orientierende Verpflichtung darin, wenn sich Schulen, allen voran die Waldorfschulen, mit seinem Namen verbinden.

Einmal hat er vom »langsamen Pfeil der Schönheit« gesprochen, der sich »als Lichtkegel einer Sternwelt« auf uns senkt. Ein höheres Erziehungsideal kann es nicht geben. Was sich in Briefen, Tagebüchern, Aphorismen und Gedichten findet, stellt ein schier unerschöpfliches Reservoir humanen Menschentums dar, das gar nicht intensiv genug studiert und umgesetzt werden kann: »Überall liegen Keime, aber wir zertreten sie heute, wir haben keine Ehrfurcht mehr vor dem Leben. So, wie wir die Tiere lebendig zerschneiden und den Massenmord organisieren, so wütet einer gegen den andern, als wären wir nicht Glieder eines Leibes, als müsse persönliche Entwickelung zu immer mehr Sonderung führen und nicht zu immer mehr Vereinigung, Gemeinsamkeit, Dienst, Opfer.«

Zum Autor: Jürgen Raßbach war Lehrer in Waren (Müritz) bis ihn 1982 ein Berufsverbot aus weltanschaulich-politischen Gründen zum Bauhilfsarbeiter machte; ab 1986 Lehrer an einem Evangelischen Gymnasium in Potsdam tätig; heute im Ruhestand. Mitglied des Vorstandes des Freundeskreises Bismarckhöhe e.V.

Literatur: Christian Morgenstern: Werke und Briefe. Kommentierte Stuttgarter Ausgabe (StA), Stuttgart 1987, Bd.5, S. 87; Christian Morgenstern: Alles um des Menschen willen, Gesammelte Briefe, München 1962; Rudolf Meyer: Christian Morgenstern in Berlin, Stuttgart 1959; Ernst Kretschmer: Christian Morgenstern. Ein Wanderleben in Text und Bild, Weinheim und Berlin, 1989; Michael Bauer: Christian Morgenstern, Leben und Werk, Stuttgart 2014; Rudolf Steiner: »Die Kunst der Rezitation und Deklamation«, zitiert nach: Peter Selg, Christian Morgensterns Weg mit Rudolf Steiner, Stuttgart 2008