Die Bedrohung des Ich durch 3D-Bilder

Ludger Helming-Jacoby

»Komm doch mal mit in so einen Film! Das ist ganz toll!« So werden ältere Kinder den Eltern vielleicht begeistert nach dem Besuch eines 3D-Films erzählen. Auch als Lehrer älterer Schüler wird man gefragt: »Waren Sie schon mal in einem 3D-Film? Was halten Sie davon?«

Sehen als Aktivität des Ich

Das Sehen ist ein höchst aktiver Prozess: Unablässig wandert der Blick beim Erfassen des Raumes und der sich darin befindenden Objekte hin und her. In feinem Zusammenspiel der Muskeln fixieren die Augen immerzu neu, wobei sich der Winkel der beiden Augachsen, je nach Entfernung des betrachteten Objektes, ständig verändert. Die Achsen kreuzen sich dort, wo sich das betrachtete Objekt befindet, das heißt an der einzigen Stelle, wo kein Doppelbild gesehen wird. Je nach Entfernung dieser Stelle ändert sich auch der Fokus, und die Augenlinsen werden unterschiedlich eingestellt. Durch den Prozess des Fixierens und Fokussierens werden Objekte als unterschiedlich entfernt wahrgenommen.

Das Fixieren, das Sich-Kreuzen der Sehachsen, ist eine spezifisch menschliche Fähigkeit und ermöglicht, dass wir zu einer Ich-Vorstellung kommen können: »Ich richte meinen Blick auf etwas.« Wenn man etwas anschaut, begibt man sich mit seinem Willen gleichsam in die Welt hinaus, ist mit seinem Ich bei dem wahrgenommenen Objekt, genaugenommen an der Stelle, die man scharf sieht, wo sich die Blicke von linkem und rechtem Auge treffen.

Beim 3D-Film wird dieser Zusammenhang von Fixieren und Fokussieren auseinandergerissen: Die Augen müssen sich, um ein scharfes Bild zu sehen, auf die Entfernung der Kinoleinwand einstellen; sie »starren« auf die Bildfläche in unveränderlicher Entfernung, wie beim Betrachten eines 2D-Films. Das Fixieren hingegen ändert sich ständig: Im 3D-Kino werden zwei geringfügig voneinander abweichende Bilder auf die Kinoleinwand projiziert, so dass dort ein unscharfes Doppelbild zu sehen ist. Mit den Polarisationsfiltern der 3D-Brille jedoch werden die Doppelbilder getrennt, so dass den Augen zwei voneinander abweichende Bilder zugeführt werden. Je näher etwas zu sehen sein soll, desto größer ist die Abweichung der beiden Bilder, wie das beim normalen räumlichen Sehen auch der Fall ist.

Um die beiden unterschiedlichen Bilder, die mittels der 3D-Brille gesehen werden, zusammenzubringen, müssen die Augen, wenn ein Filmobjekt nah zu sehen sein soll, einen Punkt vor der Leinwand fixieren; wenn es sich jedoch um ein in der Ferne befindliches Filmobjekt handelt, muss ein Punkt hinter der Leinwand »ins Auge gefasst werden«.

Der seelische Preis von 3D

Das 3D-Vergnügen hat seinen Preis. 25 Prozent der Besucher von 3D-Filmen klagen über Kopfschmerzen, Übelkeit oder eine getrübte Sehfähigkeit, wie die US-amerikanische Augenoptikervereinigung meldet. Der Zuschauer wird in eine Scheinräumlichkeit hineingezogen – das also, was er beim 2D-Film noch an Eigenaktivität aufbringt, nämlich die Umwandlung des flächigen Kinobildes in ein inneres räumliches Bild (und zwar so erfolgreich, dass bei ihm eigentlich nie der Eindruck entsteht, eine Fläche vor sich zu haben), entfällt beim 3D-Film.

Das Fixieren, also die willentlich vom Ich her geführte Sehaktivität, richtet sich beim 3D-Film zwangsläufig auf Orte vor und hinter der Leinwand (s. Abb. B). Wie wirkt ein solches Wahrnehmen, bei dem die Sehaktivität des Ich gleichsam ins Leere läuft und bei dem die Raumwahrnehmung getäuscht wird, auf unser Seelenleben? Wie wirken diese Bilder in der Seele des Zuschauers weiter?

Generell gilt für das Anschauen von Filmen – das trifft für 2D-Filme ebenso wie für 3D-Filme zu –, dass die Sehaktivität beim Betrachten eines Films eingeschränkt ist, und zwar nicht nur deshalb, weil die stets in gleichbleibender Ent­fernung befindliche Leinwand den ganzen Film hindurch fixiert werden muss. Durch die Kameraeinstellungen bekommt der Zuschauer den Blickwinkel, unter dem das Geschehen zu betrachten ist, und die Entfernung, aus der es zu sehen ist, vorgeschrieben, er macht innerlich die Kamerabewegungen mit, die Schwenks und Kamerafahrten, etwa auf eine Person zu oder von ihr weg. Und dann verändert sich die Perspektive abrupt nach jedem Schnitt; 300-400 Schnitte hat ein Film, ebenso oft muss der Zuschauer innerlich einen anderen Standpunkt einnehmen. Er wird, während er bewegungslos in seinem Kinosessel sitzt, durch das, was er auf der Leinwand sieht, scheinbar im Raum mal hierhin, mal dorthin katapultiert, er wird zur »Blickmarionette«. Die in rascher Abfolge auftretenden Schnitte und die damit verbundenen Perspektiv- und Ortswechsel werden von uns Erwachsenen normalerweise nicht bewusst wahrgenommen. Wir haben uns an sie gewöhnt. Sensiblen Menschen jedoch und insbesondere Kindern kann bei schnellen Schnitt- und Perspektivwechseln schwindlig werden – erst recht bei 3D-Filmen, da sich für den Augenschein die Wechsel hier im Räumlichen vollziehen und somit noch viel einschneidender wirken.

Bewegte Bilder machen passiv

Über das Kino sagte Rudolf Steiner in einem Vortrag am 5. August 1923 in Ilkley: »Im ›Hamlet‹, da muß man noch mit der Sache mitgehen, da muß man auch noch das gesprochene Wort verfolgen. Man ist heute vom Schauspiel aufs Kino gekommen: da braucht man nicht mehr aktiv zu sein, da rollen die Bilder nach der Maschine ab, und man kann ganz passiv sein. Und so hat man allmählich jene innere Aktivität des Menschen verloren.« Wenn nun bewegte Bilder an sich schon innerlich passiv machen, dann kann man sich fragen, ob das 3D-Format mit seinen buchstäblich überwältigenden Eindrücken, mit seiner Technik das Ich beim Wahrnehmen nicht in noch viel stärkerem Maße außer Kraft setzt.

Wie bedeutsam es für den Menschen und seine Entwicklung ist, innerlich aktiv zu sein, legte Jacques Lusseyran in einem bewegenden Aufsatz dar: »Das Ich hat gewisse Wachstumsbedingungen. Es ernährt sich ausschließlich von Bewegungen, die es selbst macht. Solche, die andere an seiner Stelle machen, sind ihm nicht nur keine Hilfen, sondern schwächen es nur. […] Alle Menschen sind mit dieser Kraft, die wir das Ich nennen, begabt, aber sie ist nicht unlösbar mit ihrem Leib verbunden. Sie ist immer bereit, ihren Platz freizugeben. Sie ruft geradezu nach ihrer Überschwemmung durch die Gegenstände, die Zahlen, die Systeme, die unabsehbaren Sinnenfreuden und die Rauschmittel. […] Unser Ich ist leicht vergänglich, weil es jedes Mal abnimmt, wenn es nicht tätig ist. Das ist […] ein Gesetz, dessen Anforderung an uns wir heute stärker denn je fühlen. Wenn unser Ich sich etwas anderem hingibt als sich selbst, dann werden wir unmittelbar zu Opfern. Unsere Lust wird sich zwar für einige Augenblicke vergrößern, weil es auch eine Lust zu schlafen gibt. Aber nie mehr werden wir die wahre Freude erleben.«

»Die wahre Freude« – ist es nicht das, was wir alle suchen? Im Kinosaal werden wir sie nicht finden – sie kann entstehen, wenn wir Begegnungen mit anderen Menschen, mit der Welt, letztlich mit uns selbst schaffen.

Zum Autor: 27 Jahre Klassen- und Englischlehrer an den Waldorfschulen in Köln und Lübeck, seit Anfang 2011 im Ruhestand, als Mentor und an Lehrerseminaren tätig.

Anmerkung: Gekürzter und redaktionell bearbeiteter Auszug aus dem Aufsatz »Gedanken zu 3D-Filmen«, aus: Ludger Helming-Jacoby, Der goldene Schlüssel – Anregungen für Klassenlehrerinnen und Klassenlehrer, Flensburg 2012. Eine erweiterte Fassung dieses Aufsatzes findet sich auf der Internetseite http://zeugnissprueche.de/golden_key.htm

Literatur: Rainer Patzlaff: Der gefrorene Blick, Stuttgart 2000 | Heinz Buddemeier: Illusion und Manipulation, Stuttgart 1996. | Die zitierten Äußerungen Rudolf Steiners über das Kino finden sich in R. Steiner: Gegenwärtiges Geistesleben und Erziehung, GA 307, Vortrag v. 5.8.1923, Dornach 1986. Welche wesentliche Bedeutung das Fixieren für die menschliche Wahrnehmung hat, führt er im 3. Vortrag der Allgemeinen Menschenkunde aus (GA 293, Dornach 1986). | Jacques Lusseyran: Ein neues Sehen der Welt, Stuttgart 1993; | Jan-Keno Janssen, Ulrike Kuhlmann: Krank durch 3D ? Welche Risiken birgt Stereoskopie?, Zeitschrift »c’t« 11/2010, im Internet abrufbar unter: heise.de/ct/artikel/Krank-durch-3D-993788.html

Die Abbildungen (A) und (B) wurden mit freundlicher Genehmigung von M.S. Banks aus David M. Hoffman et al: Vergence-accomodation conflicts hinder visual performance and cause visual fatigue, Journal of Vision (2008) 8 (3):33, 1-30, übernommen.