Die »soziale Industrie« frisst unsere Kinder

Mathias Maurer

Und Facebook will mehr und bekommt mehr: Es kennt nicht nur im Detail die Vorlieben seiner Nutzer und kommuniziert sie, sondern analysiert sie auch, denn diese lassen sich kommerziell verwerten. Mit »Timeline« und »Open Graph« bietet jetzt dieses soziale Netzwerk dem Nutzer eine neue Plattform, mit der Möglichkeit, nicht nur sein Freizeitverhalten, seine Konsum- und Lebensgewohnheiten sowie Aufenthaltsorte preiszugeben, sondern ein digitales Tagebuch, eine Lebenszeitleiste über all seine aktuellen Tätigkeiten zu führen, eine lückenlose biographische Dokumentation also, von der Wiege bis zur Bahre. Facebook bittet denn auch freundlich um ein erstes Babyfoto.

Das weckt Interessen, zum Beispiel bei Krankenkassen und der Werbewirtschaft. Passgenaue und hochindividualisierte Werbe­angebote begleiten nicht mehr nur Kommunikationsprofile, sondern den ganzen Lebenslauf. Erweitert wird das Angebot um einen Nachrichtenticker. Die Nachricht, die am meisten gefällt, steht ganz oben. Es ist zu befürchten, dass die Häufigkeit und Kommerzialisierbarkeit, nicht Richtigkeit und Seriosität, über ihren »Informationswert« entscheiden.

Facebook ist eine gigantische Marketingmaschine. Jeder Klick lässt ihren Börsenwert steigen. Kein Unternehmen will mehr auf die »Gefällt mir«-Empfehlung verzichten. Das ist nicht neu. Neu ist, dass ein soziales Netzwerk sich zum digitalen Medienmogul aufschwingen will, in dessen Sog eine vielfältige Medienlandschaft gerissen und eine uniforme Meinungs- und Geschmacksbildung produziert wird. Nachricht, Unterhaltung, Kommunikation werden so zum multimedialen Mainstream-Infotainment.

Die viel gewichtigere Frage ist allerdings: Was passiert mit den Nutzern, vor allem mit den jungen? Wer noch keinen eigenen Standpunkt hat, richtet sich nach der Meinung anderer. Und das umso mehr, je jünger. Für Jugendliche ist die Peer Group das Ein und Alles. Schule und Elternhaus treten samt ihren Erwartungen wie Hausaufgaben und Haushaltspflichten – nicht nur in Bezug auf ihren zeitlichen Aufwand – stark in den Hintergrund. Die Freunde treffen sich nicht mehr spontan auf dem Fussballplatz oder in der Disco, sondern schon Stunden zuvor im Netz. Nicht das eigentliche Date zählt, sondern die vorausgehende seelische Aufladung – »Ey Alter, was geht?«. Es ist ein astralisches Vorglühen, das rein im Vorstellungsleben bleibt. Kaum sind die Freunde zusammen, schaut schon jeder wieder in sein iPhone, ob jemand den »Gefällt-mir«-Button geklickt oder sonst eine Nachricht geschickt hat. Dann fühlt man sich wichtig, das soziale Prestige wächst. Es ist ein soziales Phänomen: Wir haben es hier tendenziell mit hochkommunikativen Autisten zu tun. Das reale Gegenüber tritt in ein Schattenreich.

Seelisch befindet sich der junge Mensch, besonders der pubertierende, in einer labilen Übergangsphase. Er will schon erwachsen sein, seine eigene Meinung haben und alles tun dürfen – und könnte die Konsequenzen seiner zum Teil extremen Ansichten und Handlungen noch gar nicht tragen oder verantworten. Er will nicht schon wieder das, was ihn in seiner virtuellen »Gemeinde« groß macht, hinterfragen, geschweige denn reflektieren. Um sich nicht mit sich selbst konfrontieren zu müssen, sind ihm alle Mittel recht. Wer diesem Anerkennungsbedürfnis Grenzen setzt, hat schlechte Karten. Eltern und Lehrer machen keinen einzigen Stich, gegen die als real erlebte Anerkennung durch die sozialen Netzwerke. Schon manche Schulkarriere ging so schleichend baden. Studien von Hirnforschern belegen, dass mediales Multitasking das Konzentrationsvermögen der Nutzer erheblich schwächt. Verschärft wird die Abhängigkeit durch das suchterzeugende Potenzial dieses Mediums, das die Psychologen und Beratungsstellen landauf, landab kennen: Offline heißt Entzug. Aber das alles ist den meisten jugendlichen Nutzern egal, denn Facebook ist einfach praktisch und bequem. Die wenigsten Nutzer unterziehen sich der Mühe, die komplizierten, sich ständig verändernden öffentlichkeits­­einschränkende Listen, die Facebook anbietet, durchzuarbeiten. Facebook gehört zum Lebensalltag und zu verbergen hat man sowieso nichts. Im Gegenteil, man will sich persönlich aller Welt zeigen.

Facebook bietet eine Bühne für die inszenierte Selbstdarstellung, Dauer-Casting online. Die jugendlichen Nutzer haben das Gefühl, ihre Facebookidentität und ihre Facebookwelt selbst gestalten zu können. Facebook macht keine Schwierigkeiten, wie die Leute in der realen Welt. Facebook will alles von ihnen. Das zeigt der Film »FacebookMe«, gedreht von New Yorker Waldorfschülern. Facebook ist unersättlich und verlangt nach immer mehr Daten. Dahinter steckt die Sehnsucht junger Menschen nach echter menschlicher Begegnung, die schamlos von der »sozialen Industrie« (Mark Zuckerberg) ausgenutzt wird. Diese Sehnsucht wird nicht befriedigt. Tragisch ist, wie das reale Leben, Lebenszeit und Lebenspotenzial der Nutzer, ungenutzt und an die Konsum- und Werbeindustrie – meist unwissentlich – verkauft, im Netz verschwinden. Eines ist dieses soziale Netzwerk nicht: sozial.


Warum wir (trotzdem) die Sozialen Medien nutzen

Im Januar 2010 ging die »Erziehungskunst« mit einem neuen Konzept online. Neben aktuellen Nachrichten und Terminen, die sich in einem Monatsmagazin nicht immer zeitnah vermitteln lassen, verfügt die Internet-Ausgabe über eine umfangreiche Recherchefunktion. Die Besucherzahlen und Zugriffe bis zu 70.000 pro Ausgabe zeigen, dass damit ein verbreitetes Bedürfnis erfüllt wird.

Neben dem klassischen Internet haben sich seit einiger Zeit die Online-Netzwerke etabliert. Zahlreiche Nutzer tauschen sich durch dieses Medium über sie interessierende Fragen aus. Auch die »Erziehungskunst« und der Bund der Freien Waldorfschulen sind bei Facebook präsent. Diese Netzwerke werden oft dafür benutzt, Ressentiments und gezielte Verleumdungen gegenüber der Waldorfpädagogik und Rudolf Steiner zu verbreiten. Zu der Tatsache, dass sich die öffentliche Rezeption der Waldorfschulen in den letzten Jahren substanziell verbessert und versachlicht hat, gehört neben einer veränderten Strategie in der Öffentlichkeitsarbeit des BdFWS auch das neue Konzept unserer Zeitschrift, ihre weite Verbreitung und ihre Präsenz auch auf Social-Media-Plattformen, wo ein großer Teil des Informationsaustausches stattfindet.

Henning Kullak-Ublick

www.facebook.com/erziehungskunst.heute
www.facebook.com/waldorfschule