Erschütternder Abend

Ute Hallaschka

Winterhoff ist Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeut. Als Analytiker untersucht er Beziehungsstörungen zwischen Erwachsenen und Kindern, seine Bücher und Vorträge basieren auf Fallbeispielen aus der eigenen Praxis. Er ist ein gefragter Experte und Gesprächspartner in Talkshows.

Die Stadthalle in der ländlichen Kleinstadt ist ausgebucht. Rund tausend Menschen lauschen dem Referenten. Was Winterhoff im freien Vortrag locker und souverän erläutert, basiert auf dem Weltbild der Tiefenpsychologie. Das symbiotische Verhalten der Erwachsenen im Umgang mit Kindern – ausdrücklich werden Eltern und pädagogische Fachkräfte angesprochen – wird als »Beziehungsstörung« definiert. Der partnerschaftliche Umgang auf Augenhöhe, die Symbiose als ein Missverständnis von Freiheit, das nicht nur zu Fehlentwicklungen führt, sondern die gesunde Entwicklung der Heranwachsenden geradezu verunmöglicht. Soziale und emotionale Beziehungskraft bleibe auf der Strecke, die Kinder würden so in einem bestimmten Säuglingsstadium gebannt. Winterhoff nennt es die Thekenmanier: Was möchtest du heute essen, anziehen, lernen, tun …, was als falsches Konzept das Kind überfordert und zugleich zur Reggession führt, so dass noch Zehnjährige sich innerlich wie schreiende Babys in ihrem Weltverhältnis empfinden und gebärden.

Der Referent beschreibt die Lernkonzepte der Moderne als Unsinn, der sich bis ins Körperliche erstreckt. Beispielsweise die Sitzordnung im Klassenzimmer. Physiologisch gesehen sei Frontalunterricht das Beste. In der beliebten U-Form müsste sich ein Teil der Schüler beim Blick nach vorne dauernd den Hals verrenken; noch schlimmer in den zusammengestellten Tischgruppen, wo manche mit dem Rücken zur Tafel säßen. Wie sollte sich da ruhige Aufmerksamkeit bilden?

Anderthalb Stunden lang plädiert Winterhoff so für den gesunden Menschenverstand – den er auch so nennt – aber immer unter der ausdrücklichen Prämisse, dass die kulturelle Fehlentwicklung der Pädagogik darauf zurückzuführen sei, dass man das Freudsche Welt- und Menschenbild, die Richtigkeit seiner Entwicklungstheorie zugunsten lerntheoretischer Konzepte preisgegeben hat.

Am Ende sind es drei konkrete Empfehlungen, auf die der Vortrag hinausläuft. Kinder bräuchten Vorbilder, in Wirklichkeit sei die Liebe zum Lehrer ihr Lernmotiv. Klare Anweisungen, Orientierung durch die Lehrerpersönlichkeit seien nötig. Es brauche Rituale, Wiederholungen, stets wiederkehrende gleiche Abläufe, die Struktur, Sicherheit und Geborgenheit vermitteln. Es ist ein wenig unheimlich, die tiefen Stoßseufzer, den geradezu erlösten Atem des Publikums wahrzunehmen. Als wäre der Redner ein Prophet, der allen aus dem Herzen spricht, der endlich die Wahrheit sagt.

Natürlich fällt kein Wort von Waldorfpädagogik, wo die empfohlenen Praktiken doch selbstverständlicher Alltag sind. Winterhoff besteht darauf, dass er als Psychotherapeut sich nicht in gesellschaftliche Erziehungsfragen einmischen dürfe. Aber wovon spricht er denn die ganze Zeit? – als er das staatliche Schulwesen ideologisch nennt, brandet Beifall auf.

Für einen anthroposophischen Zuhörer ist es ein ambivalentes Erlebnis. Soll man sich jetzt freuen, dass Anthroposophie offensichtlich in der Welt angekommen ist, oder betrauern, dass sie keinerlei Erwähnung findet?

Das Vortragsende ist jedenfalls erschütternd. Es besteht in der Aussage, dass jede noch so schlimme Störung innerhalb von sechs Monaten heilbar sei – vorausgesetzt die Eltern hätten genug Geld. Dann empfiehlt Winterhoff englische Internate, von denen die Kinder in kürzester Zeit vollkommen verwandelt und geheilt zurückkehrten.

Mensch – möchte man ausrufen – du beschreibst die Praxis der Waldorfschule – doch ihr geisteswissenschaftliches Konzept geht über das Weltbild der Tiefenpsychologie hinaus; außerdem kann sie auch von Kindern besucht werden, deren Eltern nicht über 35.000 Euro Schulgeld verfügen. Diesen Ausruf lässt man besser bleiben, – auch wenn er die Wahrheit trifft – wenn man nicht wahlweise als Besserwisser oder Sektierer dastehen will.