Gehirnputzen für die Zukunft. Oberstufenpädagogik und das neurophilosophische Weltbild

Renatus Derbidge

Zum Glück, könnte man meinen, denn das Selbstbild spielt enorm in unser Weltverständnis hinein. Es prägt, wie wir die Welt sehen – auch im pädagogischen Alltag, in dem es in die zwischenmenschlichen Beziehungen, in die Didaktik und Methodik einfließt. So kann es überraschen, wie wenig materialistisch das Schulleben, dank dieses »veralteten Selbstkonzeptes«, doch noch ist. Bildung ist noch immer vom deutschen Idealismus und der Begegnung von Mensch zu Mensch geprägt. Die Lehr- und Lernsituation ist eine primär menschliche, von der angenommen wird, dass in ihr das Potenzial zur Begegnung, Berührung, Bewegung liegt.

Neurobiologisch, wissenschaftlich gedacht, ist diese naive Annahme aber überholt. In der Fernsehsendung des SF1 »Sternstunde Philosophie« vom 6. Februar 2011 wurde ein Gespräch zwischen dem Philosophen Thomas Metzinger (Universität Mainz) und dem Wissens-Buch-Bestseller-Autor Richard David Precht gesendet (alle folgenden Zitate stammen von Metzinger aus dieser Sendung). Hier ging Metzinger, der sich intensiv mit den neurobiologischen Erkenntnissen und deren ethischen Implikationen auseinandergesetzt hat, aufgrund dieser Forschungsergebnisse auch auf die Pädagogik ein. Um die jungen Menschen auf die neue Lebensrealität vorzubereiten, nennt er Vorschläge, die aufhorchen lassen.

Schulfach Meditation

Grundlage seiner Philosophie ist das neurobiologisch geprägte »Selbst«bild. Demnach sei das »Selbst« eine Täuschung, Geist ein Produkt des Gehirns – soweit nichts Neues. Aber was Metzinger daraus schließt, ist beachtlich: Ein Schulfach Meditation solle Pflicht werden! So wie es selbstverständlich sei, Zähne zu putzen, müsse man auch das Gehirn putzen – und Meditation reinige das Gehirn vom Dreck des Tages. »Überall wird von außen versucht, Zugriff auf unsere Aufmerksamkeit zu erlangen; Meditation, Entspannungsübungen und Besinnung auf das ›was man wirklich will‹«, sollen den erschreckenden Phänomenen unserer Zeit, wie etwa der immer kürzer werdenden Aufmerksamkeitsspanne von Schülern, entgegenwirken, findet Metzinger. Die Neurobiologie ist aufs Meditieren gekommen.

Ein Weltbild ohne Welt

Ist es gleichgültig, durch welches Denken man auf eine gute Idee, wie das Meditieren kommt? Gilt: Solange das Resultat gut ist, ist der Ursprung gleich? Der Zweck heiligt die Mittel? Tatsächlich – meine ich – findet hier aber eine fast nicht zu bemerkende Kränkung unseres Menschseins statt. Was als kluges Gedankenspiel daherkommt, will geprüft werden: Was wird hier eigentlich gesagt?

Es werden zwei Dinge von uns verlangt: Zum einen ein Verzicht auf eine reale Welt. Die wahrgenommene Welt sei lediglich subjektives Erlebnis. Metzinger spricht von »Repräsentationen« der Außenwelt, vorgegaukelt durch unser Gehirn, die zwar unser Selbst mitkonstituieren sollen, zu der wir letzten Endes aber keine verpflichtende Verbindung aufbauen können. Anstatt die Sinne etwa als »Tore zur Welt« zu sehen, versteht Metzinger sie in seinem Buch »Der Ego-Tunnel« als limitierenden Faktor: »Wir sind in einer Höhle gefangen, aus der wir, aufgrund unserer beschränkten Möglichkeiten, die ›eigentliche‹ Welt außer uns nicht erleben können«.

Metzingers »Höhle«, kommt einer Hölle gleich, in der man in seinem subjektiven Sud »schmort«, aus dem es keine Befreiung geben kann. Ein Kind, das in eine solche Lebensstimmung hineinwachsen würde, verlöre wohl den in der Kindheit erlebten Seinsgrund, die Lebenssicherheit. Das Gefühl der Getrenntheit, welches im Rubikon zum ersten Mal aufleuchtet und dann in der Pubertät zum Lebensgefühl wird, wird von solch einer »Philosophie« bestätigt. Sie weist keinen Weg aus dieser Situation heraus. Der Schritt der Vereinzelung in der Seelenentwicklung ist notwendig, um ein eigenes Selbstgefühl zu entwickeln – für das Aufwachen zur Individualität. Dieser Schritt darf aber nicht in eine Sackgasse wie Metzingers Höhle führen. So betrachtet, ist Metzingers »Ego-Tunnel« als Beispiel für das neurophysiologische Weltbild ein durch und durch pubertäres: Der Mensch bleibt in der Vereinzelung, ohne wirklichen Anschluss an die Welt außer ihm. Dieses Bild verweilt in der Lebensanschauung der Pubertät und kennt keine freie Individualität, die es wohl im späteren Alter zu erringen gilt.

Pädagogik soll den Jugendlichen aus diesem Dilemma zurück zur Verbindung mit der Welt verhelfen. Rudolf Steiner nennt für die Oberstufe als höchstes Ziel: »Weltinteresse wecken«, damit der Jugendliche eine Verbindung, eine innere Verwandtschaft mit dem, was draußen ist, empfinden lernen könne. Dass »man etwas mit dieser Welt zu tun hat«, muss zum selbstverständlichen Lebensgefühl werden.

Ein Selbstbild ohne Ich

Mit dem neuen Bild der Neurobiologie müssen wir uns, dies ist der zweite »Verzicht«, auch von unserem »Selbst« verabschieden. Denn auch dieses sei nur »repräsentiert« – auch wenn es nach Metzinger »das Beste ist, was die Evolution hervorgebracht« hat, nämlich eine »Selbst-Repräsentation«. Weder sei die Welt, die wir erfahren, eine wirkliche, noch sei das Ich real – beides nur »Illusionen«, vom Gehirn produziert. In einem solchen Weltbild kann der Mensch Sicherheit weder in sich noch in der Welt finden. Das angepriesene Meditieren, das »Putzen der Gehirnwindungen« verkommt so zu einem reinen Zweckgeschehen, um die Funktionalität des Menschen in einer sinnlosen Welt zu maximieren.

Hans-Christian Zehnter hat in mehreren Artikeln versucht, auf diese zwei Tendenzen und die Möglichkeiten ihrer Überwindung durch Anthroposophie aufmerksam zu machen (veröffentlicht in Hans-Christian Zehnter, ZeitZeichen 2011). Diese zwei »Todesrichtungen«, wie Zehnter sie nennt, sind zum einen der Subjektivismus, zum anderen der Materialismus. Todesrichtungen, weil sie die Gefahr bergen, das Leben zu »entlebendigen«. Entfremden wir uns der Welt im Subjektivismus, werden wir zu einem in einer leeren Welt herumirrenden Einzelwesen ohne Verbindungsmöglichkeit und Zusammengehörigkeit: Wir sind gefangen im »Ego-Tunnel«. Die andere Todesrichtung ist das Verdinglichen der Welt durch den Materialismus, ein Hinterlegen der Sinneserscheinungen mit atomistischen Vorstellungen.

Bei Rudolf Steiner klingt das anders: »Das sinnenfällige Weltbild ist die Summe sich metamorphosierender Wahrnehmungsinhalte ohne eine zugrunde liegende Materie« (Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften). Nehmen wir nur noch eine dingliche, tote Welt außerhalb von uns wahr, und alles andere rechnen wir zum Eigenerleben, dann verlieren wir genauso wie im Subjektivismus jegliche Möglichkeit einer Verbindung zur Welt – und, nach »innen« geschaut, verbauen wir uns den Zugang zu unserem wahren, höheren Selbst.

Pädagogik, die aus der Pubertät führt

Steiner betonte oft genug, dass gute naturwissenschaftliche Forschung, auch materialistische, zu den gleichen Resultaten wie die Geisteswissenschaft führen werde. Im Falle von »Meditation« liegt eine solche Übereinstimmung vor. Es ist aber wichtig, klar zu verstehen, was für ein Geist sich hinter der Forderung nach Meditation verbirgt. Am Fall Metzinger sollte deutlich werden, dass dieses Bild des Menschen nichts anderes darstellt, als konsequente materialistische Naturwissenschaft, die – was neu ist – nun mit aller Kraft versucht, im Sozialen wirksam zu werden. Sie projiziert ein totes, kaltes, abstrahiertes Menschenbild, welches entgegengesetzter zu dem von Steiner nicht sein könnte, der diese Tendenz bereits vor hundert Jahren deutlich auf uns zukommen sah. Deshalb wurde die Waldorfpädagogik als Notfallmaßnahme, als zeit-therapeutische Notwendigkeit, als Gegenentwurf, um den Geist zu retten und dem Materialismus etwas entgegenzustellen, von Steiner inauguriert. Er bezeichnete die Waldorfpädagogik als Zeit-Notwendigkeit, um den Geistesmenschen nicht aus den Augen zu verlieren.

Kampf um ein würdiges Menschenbild

Wenn wir also ein neues Konzept des Selbstes bräuchten, das zurecht von der Wissenschaft und der gesellschaftlichen Elite gefordert wird, dann sollte deutlich geworden sein:

Ja, das stimmt! Aber es geht dabei nicht um ein immer einseitiges und reduktionistisches Konzept, sondern um ein menschliches! Grundlage unseres In-der-Welt-Seins ist das Ich. Der Auftrag der Waldorfpädagogik erschöpft sich nicht in gutem Unterricht mit humanistischem Menschenbild: Unsere Schulen sind Kampfplätze, sind an vorderster Front im Kampf um das Menschenbild, um das heute gerungen wird. Unsere Oberstufen-Schüler stehen mitten in diesem Kampf, biographisch, ihrem Alter entsprechend und als Bürger der Welt. Um ihnen aus der Pubertäts-Vereinzelungs-Ohnmacht herauszuhelfen, müssen wir erst einmal selbst in uns diese Ohnmacht erkennen und die »Todesrichtungen« überwinden. »Für den Menschen besteht nur solange der Gegensatz von objektiver äußerer Wahrnehmung und subjektiver innerer Gedankenwelt, als er die Zusammengehörigkeit dieser Welten nicht erkennt. Die menschliche Innenwelt ist das Innere der Natur« (Steiner). Dies ist eine erwachsene, ichhafte, ja ichgemäße Welt- und Selbstanschauung, die die Pubertät deutlich hinter sich lässt. Sie ermöglicht den Jugendlichen eine Verbindung zur Welt, in der Verantwortung Sinn stiftet.

Zum Autor: Dr. Renatus Derbidge ist Biologe und Mitarbeiter an der Naturwissenschaftlichen Sektion am Goetheanum und Lehrer an der Rudolf Steiner-Oberstufenschule »Schule und Beruf« in Basel.

Literatur: Thomas Metzinger: Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst. Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik, Berlin 2010; Wolf Singer: Hirnforschung und Meditation, Frankfurt/Main 2008; Rudolf Steiner: Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften. Zugleich eine Grundlegung der Geisteswissenschaft (Anthroposophie), Dornach 1987; Holm Tetens: Geist, Gehirn, Maschine, Stuttgart 1994; Hans-Christian Zehnter: ZeitZeichen. Essays zum Erscheinen der Welt, Dornach 2011