Hochschule und Anthroposophie

Peter Loebell, Tomás Zdrazil

Die – staatlich anerkannte – Freie Hochschule Stuttgart, deren einzige Aufgabe die Ausbildung von Waldorflehrern ist, pflegt naturgemäß eine besondere Beziehung zur Anthroposophie. Diese stellt – neben den aktuellen Bildungswissenschaften – einen wesentlichen Gegenstand von Forschung und Lehre dar.

Es gehört selbstverständlich zu den Aufgaben einer Hochschule, den Studierenden umfangreiche Kenntnisse der Erziehungswissenschaft, Entwicklungspsychologie, Anthro- pologie sowie Grundlagen der Unterrichtsfächer und Fachdidaktik zu vermitteln. Im Sinne eines freien Geisteslebens werden verschiedene wissenschaftliche Paradigmen vorgetragen und offen diskutiert. Dabei wird die Anthroposophie nicht als Lehre vermittelt, sondern als Angebot für die reflexive Suchbewegung im individuellen Erkenntnisstreben. Durch diese Art der Vermittlung eröffnet sich die Perspektive auf innere geistige Erfahrungen, die im Vollzug des eigenständigen, kritischen Denkens entstehen. Diese wiederum können dazu führen, dass die allein an naturwissenschaftlichen Maximen orientierte Weltanschauung  ergänzt wird.

Anthroposophie ist eine Methode des Hochschulstudiums

Anthroposophie ist nicht nur Erkenntnisgegenstand und keinesfalls ein Bekenntnis, sondern weit eher eine Methode des Hochschulstudiums. Rudolf Steiner und in seiner Nachfolge eine große Anzahl von Wissenschaftlern wiesen auf Möglichkeiten einer vertieften Menschenerkenntnis hin, die die Grundlage für eine innovative pädagogische Praxis bildet. In einem umfassenden Sinne erscheinen die Anregungen als eine Heuristik, die den Blick des Pädagogen auf mögliche Zusammenhänge in der leiblichen, seelischen und geistigen Entwicklung von Heranwachsenden lenkt. Erkenntnistheoretisch handelt es sich um den Vorgang der Abduktion im Sinne des amerikanischen Philosophen Charles S. Peirce. Es ist nicht der induktive Schluss von einem Einzelfall auf ein allgemeines Gesetz, auch nicht die deduktive Ableitung des Besonderen aus dem Allgemeinen, sondern der Schluss von zusammenhängenden Phänomenen auf die bestmögliche Erklärung.

So lassen sich viele Erscheinungen in der kindlichen Entwicklung verstehen, wenn man etwa Steiners Lehre von den vier Wesensgliedern als Denkmöglichkeit  in Betracht zieht. Es ist ein Zugang zu augenscheinlich rätselhaften Phänomenen, der beständig kritisch reflektiert und ggf. verändert werden muss.

Übungsweg und Fähigkeitsbildung

Die Anthroposophie begründet einen vielseitigen Entwicklungsweg mit dem Ziel der Fähigkeitsbildung künftiger Lehrpersonen. Gemeint sind künstlerische Betätigungen im Malen und Zeichnen, Plastizieren, in Musik, Sprachgestaltung und Eurythmie.

Kontinuierliche Übungen in diesen Künsten sollen sowohl die Selbstwahrnehmung der Studierenden als auch ihre Sensibilisierung für Entwicklungs- und Lernvorgänge bei Kindern und Jugendlichen fördern. Diese Form der Fähigkeitsbildung fördert die Freiheit und Kritikfähigkeit der künftigen Waldorflehrer.

In diesem Sinne kann man durchaus von einer »anthroposophischen Hochschule« sprechen. Auch die Waldorfschule ist eine »anthroposophische Schule«, insofern in ihr anthroposophische Pädagogik praktiziert wird, jedoch keine Schule, in der die Anthroposophie den Schülern als Lehre vermittelt wird.

Die Freie Hochschule Stuttgart ist den allgemeinen Anforderungen an die erkenntnistheoretische Pluralität wissenschaftlicher Hochschulen verpflichtet und bietet die international anerkannten Hochschulgrade eines »Bachelor of Arts« und eines »Master of Arts« an. Gleichzeitig hat sie gegenüber dem staatlichen Lehramtsstudium durch den starken Akzent der Persönlichkeitsbildung künftiger Pädagogen ein besonderes Profil.

Zu den Autoren: Dr. Peter Loebell ist Professor an der Freien Hochschule Stuttgart; Dr. Tomás Zdrazil war Klassen- und Oberstufenlehrer in Tschechien und ist Junior-Professor an der Freien Hochschule Stuttgart.