Lichtung der Erinnerung

Ute Hallaschka

»Meine größte Freude auf dieser Erde war schließlich doch das Schreiben, die Sprache.«

Imre Kertesz

Imre Kertesz wurde als einziges Kind jüdischer Eltern 1929 in Budapest geboren, am 9. November. 1944 wurde er mit 14 Jahren deportiert, zunächst nach Auschwitz und dann nach Buchenwald. Nach seiner Befreiung 1945 ging er zurück nach Ungarn. Er begann zu schreiben, eher zufällig, keineswegs aus dem Gefühl, dass er etwas Besonderes zu sagen hätte – er nannte es seine Gewohnheit. 1960 begann er die Arbeit an seinem Roman, die 13 Jahre lang dauern sollte. Es war ein blitzartiges Erlebnis der Inspiration, das ihn dazu veranlasste, eine innere Erfahrung, die sich jetzt als Lebensaufgabe einstellte: Finde eine Sprache für das, was geschah! Das, was Hannah Arendt auf philosophischem Feld geleistet hat, in der Sprache des Kunstwerks zu erarbeiten. Die Banalität des Bösen zu enthüllen, als die schicksallose und schicksalvernichtende Kraft des Totalitarismus. Nicht das einmalig Dämonische der Impulse, sondern gerade die gegenteilige Wirksamkeit – auf die Auslöschung alles Individuellen, des persönlichen Schicksals, zielend. Dies ein für allemal zu begreifen als die einzig mögliche Immunisierung gegen sämtliche Spielarten des systematisch Bösen.

Imre Kertesz, der 2002 den Nobelpreis für Literatur erhielt, hat sich selbst im literarischen Feierbetrieb als »Holocaust Clown« bezeichnet. Dies entsprang nicht einer Verbitterung, wohl aber einer grundgütigen Haltung der kompromisslosen Ehrlichkeit. Sie erhellt sein Werk als ein ganz besonderes Licht. Aus ihr schöpfte er seine Kraft.

1973 war das Werk beendet, es wurde zunächst abgelehnt und schließlich 1975 in Budapest veröffentlicht. Der kritische Schriftsteller mit seinem Hang zur Wahrhaftigkeit war den kommunistischen Machthabern nicht genehm. Darum dauerte es noch einmal ein Jahrzehnt, in dem der Roman totgeschwiegen wurde. Erst eine Neuauflage 1985 brachte den Durchbruch, auf Deutsch erschien der Roman zuerst 1990 und dann 1996 in neuer Übersetzung.

Die Jahre von 1982-89 in denen er, unentwegt arbeitend, relativ mittellos in seiner Budapester Einzimmerwohnung lebte, hat er später als die einzig glücklichen sieben Jahre seines Lebens bezeichnet. Von 2002-2012 lebte Imre Kertesz, als ein ungebrochener Verehrer der deutschen Kulturgeschichte, zusammen mit seiner zweiten Frau, in Berlin. Er schrieb und veröffentlichte weiterhin, doch mit dem Gefühl, sein eigenes Leben überlebt zu haben. Es sind Meisterwerke, entstanden aus der Treue dem eigenen Schicksal gegenüber.

Eine Parkinson-Erkrankung zwang ihn schließlich zur Rückkehr nach Budapest. Sonst wäre er nicht nach Ungarn gezogen, mit dessen antidemokratischer Entwicklung er unmöglich einverstanden sein konnte. Dort starb er am 31. März im Alter von 86 Jahren. Ein Auschwitz-Überlebender, der sich bereit fand, Heimat in Deutschland für möglich zu halten. Wir sind es ihm schuldig, weiter zu lesen. Weiter in der eigenen Seele zu entdecken, was die Personalität des Lebens bedroht – all dessen im eigenen Bewusstsein ansichtig zu werden. Jetzt wo die letzten Zeitzeugen sterben, gilt es mehr denn je, diese Arbeit fortzusetzen, in Anteilnahme an der Zukunft. Die kommenden Generationen sind angewiesen auf das kulturelle Gedächtnis, die lebendige Gabe der Erinnerung. Imre Kertesz Werke sorgen dafür, dass wir nicht Resistenzen bilden gegen das, was uns innerlich abstumpfen lässt. Sie halten wach in der Seele, was verstehen will.