Nerfs nerven. Eltern und Kinder im Kampf

Svenja Hoyer, Wolfgang Nieke

Nerfs, die aus buntem Hartplastik bestehen, gibt es in Form von Pistolen, Gewehren, Wasserpistolen oder als Armbrust, mitsamt Zubehör-Serien. Im Unterschied zu Schreckschuss-Pistolen werden sie mit Pfeilen (»Darts«) beladen, die durch vorzuspannende Federn oder elektrisch betriebene Schleifräder verschossen werden und eine Reichweite von bis zu 25 Metern haben. Von diesen Darts leitet sich auch die Bezeichnung »NERF« ab, die für »Non-Expanding Recreational Foam« (formfester Spielzeug-Schaumstoff) steht. Kinder, Jugendliche und Erwachsene nutzen Nerfs für Ziel- und Kriegsspiele, die gerne auch in Gruppen gegeneinander ausgetragen werden.

Von Kinderhand produzierte Filmaufnahmen sogenannter »Nerf-Schlachten«, »Kriegsszenen« oder »Hinrichtungen« finden sich in frei zugänglichen Internetkanälen – wie »youtube.com« – und können von anderen Kindern als Spielvorlage verwendet werden. In Internet-Chats diskutieren Eltern rege über das Thema »Pro und Contra Nerf-Waffen«. Die Antworten auf die hier gestellten Fragen lassen drei verschiedene Reaktionsmuster erkennen. Sie reichen von genereller »Befürwortung« des Spiels mit Nerf-Waffen über die prinzipielle »Ablehnung« bis hin zur (ambivalenten) »Toleranz« (Kauf nur vom Taschengeld, Spiel nur unter Einhaltung von bestimmten Regeln).

Deutlich erkennbar ist eine generelle Verunsicherung vieler Eltern im Umgang mit dem Nerf-Phänomen, das nicht nur pädagogische, sondern auch moralische Grundsätze in Frage stellt. Vor diesem Hintergrund erstaunt, dass die Diskussion über dieses Thema im schulischen Kontext bislang so gut wie gar nicht stattfindet und von pädagogischer Seite keine eindeutigen Empfehlungen ausgesprochen werden. Der Tübinger Friedenspädagoge Günther Gugel resümiert in seinem Handbuch zur Gewaltprävention: »Eltern und Erzieherinnen und Erzieher müssen sich zu der Frage von Kriegs- und Gewaltspielzeug verhalten. Auch ein Verzicht auf ›pädagogische Interventionen‹ ist eine Reaktion. Dieses Verhalten ist oft von Unsicherheit geprägt. Die Feststellung: ›Wir spielen hier nicht mit Waffen!‹, ist eindeutig und lässt sich auch mit guten Argumenten begründen. Dennoch bleibt häufig eine gewisse Unsicherheit im Umgang mit Gewaltspielzeug.«

Innerhalb des so entstehenden Vakuums erproben Lehrkräfte in den Schulen Notfallpläne für den Umgang mit amoklaufenden Gewalttätern, während Eltern zeitgleich die Kinderzimmer der Schüler mit täuschend echten Imitaten von Maschinengewehren aufrüsten.

Verkaufsargumente der Hersteller

Kaufberatungsportale im Internet bewerten Nerfs als »harmloses Schießvergnügen« für Jung und Alt oder gar als »Sportart«. Das Agieren mit den Nerfs sei Dank der leichten und biegsamen Schaumstoff-Pfeile völlig ungefährlich und die bunte Erscheinung grenze die Nerfs optisch von echten Waffen ab. Ein Kriegsspielzeug unter vielen oder eine neue Qualität von Suggestion?

Kriegsspielzeuge sind altbekannt: von Zinnsoldaten bis zu Star-Wars-Kriegern und Spielzeugwaffen, die täuschend echt sind. Seit jeher werden Spielzeugpistolen für Rollen- und Phantasiespiele eingesetzt – von Jungen mehr als von Mädchen. Die schädlichen Wirkungen scheinen nicht sehr stark zu sein. Verbreitet ist die Katharsis-These, wonach die Phantasien von Verletzen, Töten und Macht ausüben gefahrlos und in einer schnell vorübergehenden Phase von zwei Jahren (zwischen zwölf und 14 Jahren, also am Beginn der Pubertät) ausgelebt werden können, so dass später Desinteresse eintritt – psychoanalytisch argumentiert. Die lerntheoretische Annahme, dass solche Spiele Muster künftiger Gewalt vorbahnen könnten, wird mit dem Argument entkräftet, dass solche Korrelationen bisher nicht beobachtet wurden. Zwar haben Gewalttäter durchaus als Kinder mit Pistolen gespielt – aber eben auch viele andere, die nicht gewalttätig wurden.

Im Hinblick auf Nerfs und auch das Konkurrenzprodukt von Lego stellt sich die Frage, ob das direkte Treffen eines lebendigen Gegenspielers mit der direkten, für das Spiel verabredeten Wirkung des »Totumfallens«, eine andere Spielqualität hat: Statt eines Phantasie- und Rollenspiels handelt es sich um ein Simulationsspiel, in dem Spielsituationen so genau modelliert werden, dass dadurch unbemerkt und unbewusst Handlungsmuster erfunden, erprobt und eingeübt werden, die in künftigen Ernstsituationen spontan realisiert werden könnten. Auffällig jedenfalls sind die Berichte von Eltern über einen offenbar starken Suchtcharakter, den diese Spielform hat. Eine Spielzeugschusswaffe, die lebende Gegenspieler erfolgreich treffen kann und die einen jederzeit auch selbst treffen kann, wenn man zu unvorsichtig oder wagemutig ist, simuliert die Ernstsituation eines Kampfs ums Überleben und um Beute. Ein möglicher Reiz dieser Spielform kann auch darin vermutet werden, dass Schmerzen zugefügt und auch ertragen werden müssen.

Die hierbei ausgeschütteten schmerzlindernden Hormone (»Endorphine«) können Euphorie und Glücksgefühle auslösen und die Motivation zum Spiel mit der Nerf erhöhen.

Instrument der Verrohung?

Empathie gilt allgemein als erstrebenswerte Fähigkeit und als Grundlage sozialer Kompetenz und moralischen Handelns. Sie hat zwei Seiten: die Fähigkeit, Emotionen anderer Lebewesen emotional nachzuempfinden (»Ich fühle, was Du fühlst«), die auch als »Gefühlsansteckung« bezeichnet wird, und die Fähigkeit zum kognitiven Nachvollziehen der Emotionen Anderer (»Ich verstehe, was Du fühlst«).

Beide zusammen ergeben die Empathie, die sich von reiner Gefühlsansteckung durch die Perspektiven- übernahme unterscheidet.

Der Umgang mit Nerf-Waffen in Kampfsituationen erfordert ein hohes Maß an Empathie. Die Mitspieler müssen in Bruchteilen von Sekunden Entscheidungen treffen: Greife ich an oder ziehe ich mich zurück? Was plant der Gegner? Dabei greifen sie hauptsächlich auf ihre kognitive Empathie zurück. Es ist daher anzunehmen, dass das Spielen mit Nerf-Waffen – ähnlich wie bei Computerspielen bereits nachgewiesen – eine Steigerung der kognitiven Empathie fördert, wohingegen die emotionale Empathie eine eher hinderliche Rolle spielt. Mitleid oder Mitgefühl mit dem Gegner sind innerhalb des Nerf-Spiels eher unerwünscht, da diese Gefühle angreifbar machen und die eigene Spielposition schwächen. Während des Nerf-Spiels muss also bewusst die emotionale Seite der Empathie ausgeklammert werden, zugunsten einer kognitiv orientierten »funktionalen« Empathie, die schlimmstenfalls auch zu manipulativen Zwecken missbraucht werden kann.

Aktuellen Studien zufolge weisen sogenannte »Psychopathen« und Gewalttäter eine Persönlichkeitsstruktur auf, die durch einen hohen Anteil an funktionaler Empathie gekennzeichnet ist. Neurowissenschaftler und Kulturforscher wie zum Beispiel Fritz Breithaupt sprechen hier von der »dunklen Seite der Empathie«, die bislang zu wenig Beachtung gefunden habe.

Wissenschaftliche Untersuchungen zu den kurz- und langfristigen Auswirkungen des Spielens mit Nerf-Guns auf die Empathiefähigkeit von Kindern und Jugendlichen stehen noch aus.

Nerf-Guns und die Frage der Moral

Für die Moralerziehung ist es besonders bedeutsam, Kinder nicht mit moralischen Begriffen zu überfüttern, sondern vielmehr durch das eigene lebendige Vorbild zu wirken. Bereits 1922 merkte Rudolf Steiner an: »Wenn wir dem Kinde fertige Gebote beibringen, die schon Begriffe sind, dann muten wir ihm zu, die Moral in Ideenform aufzunehmen, und da kommt die Antipathie; gegen Moralgebote, die abstrakt formuliert sind, stemmt sich der innerliche Organismus des Menschen, macht Opposition.«

Im Idealfall bildet sich das Kind seine moralischen Vorstellungen selbst und orientiert sich dabei an den Werten und Normen, die ihm von seiner Umgebung – und dazu gehören Elternhaus, Schule und Freundeskreis – vorgelebt werden. Um Orientierungspunkte im Umgang mit Gewaltspielzeug zu schaffen, ist es somit wichtig, dass Eltern und Pädagogen sich eine eindeutige und klare Haltung dazu erarbeiten und diese im Gespräch mit den Kindern und Jugendlichen auch ausdrücken und kommunizieren – auch und gerade wenn sie im Gegensatz zu der des Kindes steht.

Kinder greifen zu Nerf-Waffen, weil der Einfluss des Elternhauses heutzutage nicht mehr das einzige »Vorbild« ist. Der Einfluss der Peergroup, der Medien und der Sozialisationsinstanzen wie Kindergarten und Schule nimmt einen großen Raum ein (zudem häufen sich Berichte, dass manche Eltern dem hohen Aufforderungscharakter der Nerf nicht widerstehen können und mitspielen oder gar Kindergeburtstage organisieren, auf denen mit Nerf-Waffen gespielt wird).

Was tun?

Eine pädagogische Möglichkeit wäre die Sublimation: Der Einsatz der Spielzeugschusswaffe wird begrenzt auf eine sportliche Geschicklichkeitsübung, nämlich eine Zielscheibe. Dies entspricht dann der etablierten Praxis des Bogenschießens, zumal es neben den Maschinenpistolen auch Armbrust- und Bogennachbildungen im Programm des Herstellers gibt. Folgt man der Katharsis-Vermutung, kann man gelassen sein und darauf vertrauen, dass die Faszination nur kurz – maximal zwei Jahre – anhält und dass die Spielpraxis des simulierten Verletzens, Beraubens und Tötens keine anhaltend negativen Auswirkungen auf das Handlungsrepertoire der Jugendlichen hat. Steht der Sucht-Charakter im Vordergrund, sollte konsequent interveniert werden, weil hier nicht zu erwarten ist, dass er sich von allein nach einiger Zeit verliert.

Bei konsequenter pazifistischer Ausrichtung des Eltern­hauses wäre es inkonsequent, die Spielpraxis des Verletzens, Beraubens und Tötens ausdrücklich oder stillschweigend zu ignorieren, weil die Jugendlichen natürlich wissen, dass und was die Eltern davon wissen. Hier müsste die klare Ablehnung der Eltern für die Jugendlichen deutlich werden. Das drängt sie zwar in die Verheimlichung, wenn sie sich trotzdem dafür entscheiden, ist dann aber Teil des Ablösungsprozesses von den Orientierungen der Eltern in der Adoleszenz – und das liegt außerhalb der Verfügung und der Verantwortung der Eltern.

Das wird von vielen Eltern, vor allem für die frühe Adoleszenz, nicht akzeptiert, weil sie sich weiterhin in der Gesamtverantwortung für das gelingende Aufwachsen sehen. Pädagogen sollten Eltern in dieser Situation unterstützen, indem sie klärende Gespräche über die möglichen Reaktionen der Heranwachsenden auf die Verbote der Eltern und die Alternativen dazu führen.

Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht wird meist empfohlen, mit den Kindern zum Thema »Nerf« im Gespräch zu bleiben und das Für und Wider mit ihnen zu diskutieren. So erwerben die Kinder Einstellungen, die Orientierung bieten und bei Spiel- und Kaufentscheidungen herangezogen werden können. Der Machtkampf zwischen Eltern und Kind wird zudem glimpflicher verlaufen, wenn das Kind die Beweggründe der Eltern für eine Ablehnung von Nerfs nachvollziehen kann. Die aus unserem Blickwinkel heraus angemessenste Alternative besteht in einer auf Verständigung bedachten Haltung, bei der die Kinder auf Augenhöhe mit den Erwachsenen sprechen und deren Beweggründe bei der Spielzeugwahl nachvollziehen können.

Eine kindgerechte Erklärung ist in jedem Alter möglich, muss aber der jeweiligen Entwicklungstufe des Kindes angemessen formuliert werden. Es wichtig, dass Eltern ihre Beweggründe bei der Spielzeugwahl ausführlich dem Kind mitteilen.

Für Eltern und Schule kann es sinnvoll sein, gemeinsam über dieses Thema zu sprechen und Regeln für den Umgang mit »Nerfs« festzulegen.

Zu den Autoren: Dr. phil. Dipl.-Psych. Svenja Hoyer ist Akademische Mitarbeiterin der Forschungsabteilung der Freien Hochschule Stuttgart mit Schwerpunkt empirische Lehrerbildungsforschung. Prof. Dr. Wolfgang Nieke ist Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Rostock mit Lehraufträgen an der Freien Hochschule Stuttgart.

Literatur: F. Breithaupt: Die dunklen Seiten der Empathie, Berlin 2017 | G. Gugel: Handbuch Gewaltprävention III. Für den Vorschulbereich und die Arbeit mit Kindern. Grundlagen- Lernfelder- Handlungsmöglichkeiten, Tübingen 2014 | R. Steiner: Die geistig-seelischen Grundkräfte der Erziehungskunst. Spirituelle Werte in Erziehung und sozialem Leben, GA 305, Vortrag vom 25. August 1922, Dornach 1991

Nerf Gun kaufen: das sollte man beachten

Handbuch Gewaltprävention