Schwieriger Brückenbau. Waldorfpädagogik und Erziehungswissenschaft

Gerhard Herz

In ruhiger Diktion zeigt Volker Frielingsdorf in »Waldorfpädagogik in der Erziehungswissenschaft«, dass der Abwehrgestus der genannten Autoren aus einem spezifischen Wissenschaftskonzept oder einem persönlichen ideologischen Vorbehalt herrührt. Das Talent Frielingsdorfs, in diesem umstrittenen Feld als Brückenbauer zu dienen, zeigt sich exemplarisch in seinem Kapitel über die 1990er Jahre, wenn er die Herangehensweise des Göttinger Erziehungswissenschaftlers Christian Rittelmeyer als Möglichkeit vorstellt, »anthroposophisches Geistesgut produktiv aufzu- greifen, es als experimentelle Form zu nutzen« und der Gefahr zu entgehen, dogmatisch zu werden.

Frielingsdorf zeigt, dass diese Debatten schon seit den 1970er Jahren in unterschiedlicher Intensität geführt werden. Während in den 1970er Jahren das Thema Freie Schule im Vordergrund war, entstand in den 1980er Jahren eine Auseinandersetzung mit der Waldorfpädagogik selbst, mit einer fast schon erstaunlichen Fülle von wissenschaftlichen Studien. In den neunziger Jahren kam, initiiert durch Ernst-Michael Kranich, den damaligen Leiter des Stuttgarter Waldorflehrerseminars, ein Dialog in Gang, der sich in drei Sammelbänden niederschlug. Dass in dieser Zeit andererseits die Zahl der Veröffentlichungen zur Waldorfpädagogik in erziehungswissenschaftlichen Fachzeitschriften zurückging, kann zumindest ein Hinweis auf die nach wie vor marginale Stellung der Waldorfpädagogik in der Erziehungswissenschaft sein. Gleichzeitig gibt es in diesen Jahren auch einen neuen Schritt zum Dialog von Seiten scharfer Kritiker, nämlich eine differenzierte Analyse des Mathematikunterrichts durch Heiner Ullrich und Susanne Prediger – es gibt also auch Bewegung, nicht nur Abgrenzung.

Rudolf Steiner – noch immer ein Stein des Anstoßes?

Das erste Kapitel zeigt allerdings mit dem Hinweis auf die drei nicht gerade dialogfördernden Biographien, die zum 150. Geburtsjahr Rudolf Steiners erschienen sind (von H. Ullrich, H. Zander und M. Gebhard), dass der Weg noch ein langer sein wird. Rudolf Steiner ist für viele Akademiker nach wie vor ein Stein des Anstoßes. Dass es in der jüngeren Geistes- und Kulturgeschichte kaum jemand gegeben hat, der auf so vielen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Feldern wirksam geworden ist, scheint Steiner als wissenschaftlichen Gesprächspartner zu disqualifizieren.

Ist die Anthroposophie falsifizierbar?

Im zweiten Kapitel geht es um die »grundsätzlichen Fragen der anthroposophischen Pädagogik«. Frielingsdorf beschreibt den zunächst fast unüberbrückbar scheinenden Gegensatz: die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners auf der einen und den wissenschaftlichen Mainstream auf der anderen Seite, der Steiners Ansatz als »rationalisierte Mystik« (Ullrich) abqualifiziert. Auf dem Hintergrund solcher, zunächst quasi brückenloser Pfeiler, rückt er die anthropologischen Debatten hinsichtlich der spekulativen Elemente beider Seiten ins Zentrum: pädagogische Psychologie, die Temperamentenlehre, Erziehungskunst und die Behauptung der »hermetischen Abgeschlossenheit« der Waldorfpädagogik. Von diesem letzten Punkt ausgehend kann man seine Frage verstehen, ob die Vertreter der Waldorfpädagogik das wissenschaftliche Prinzip der Falsifizierbarkeit auch auf die aus der Anthroposophie gewonnenen Aussagen anzuwenden bereit sind.

Die Aufarbeitung des vorhandenen Materials zeigt, dass Wissenschaftlichkeit keine positivistische Einbahnstraße ist, dass vielmehr kritisch-dialogische Lernprozesse möglich sind. Frielingsdorf führt Beispiele an, dass man Normierendes auf beiden Seiten fruchtbar überwinden kann.

Fülle und Innovationsfähigkeit

Das dritte Kapitel befasst sich mit den »Methodisch-didaktischen Grundlagen der Waldorfpädagogik«. Hier zeigt sich die Fruchtbarkeit des waldorfpädagogischen Ansatzes an einer erstaunlichen Fülle von Beiträgen auf den verschiedenen Pädagogikfeldern. Das Klassenlehrerprinzip, der Epochenunterricht, die Didaktik der Fächer werden ebenso differenziert erörtert, wie die Heilpädagogik, die Notengebung und »neue Aufgabenfelder«, die von der Medienpädagogik über die Ökologische Bildung bis zu transnationalen Ansätzen reichen. Neben der umfassenden und kritischen Darstellung des aktuellen Forschungsstandes wird in diesem Kapitel vor allem zweierlei deutlich: zum einen die teilweise doch sehr ignorante »Nicht-Wahrnehmung« waldorfpädagogischer Ansätze wie des Epochenunterrichts oder der Notengebung durch die pädagogische Forschung; zum anderen kann man sehen, dass dem immer wieder behaupteten Traditionalismus eine beeindruckende, tatsächliche Innovationsfähigkeit gegenübersteht.

Waldorf im gesellschaftspolitischen Raum

Das vierte Kapitel betrachtet die Publikationen zu den »Waldorfschulen im gesellschaftspolitischen Umfeld«, einen Bereich, den Steiner mit seinem Hinweis auf die zentrale Bedeutung der »Staatsfreiheit« des Bildungswesens oft genug ins Bewusstsein gerückt hat. Die pädagogische Bedeutung einer freien Schule wird, wie Frielingsdorf zeigt, zwar mit der Waldorfpädagogik deutlich in Verbindung gebracht, aber heute kaum diskutiert. Das ist angesichts des Zustands des staatlichen Bildungssystems und seines andauernden Reformbedarfs erstaunlich – und bedauerlich. Die Frage, ob ein vom Staat unabhängiges Erziehungswesen sinnvoll oder gar nötig wäre, scheint kaum mehr Interesse zu finden, wenn man das aus den Studien schließen darf, die vorwiegend aus den späten 1970er Jahren stammen. Der ebenfalls in diesem Kapitel erwähnte Weg von Waldorflehrerbildungsstätten zur Hochschulakkreditierung im Rahmen des Bologna-Prozesses, dürfte diesen aus Sicht des Rezensenten immer mit der Waldorfpädagogik verbundenen Autonomieimpuls kurzfristig sicher nicht verstärken. Ob die von Frielingsdorf erwähnte, verbesserte Einbindung in die scientific community eher Anpassung ist oder mehr Möglichkeiten bietet, hier Profil zu gewinnen, wird sich erst mittelfristig zeigen. Im abschließenden Kapitel »Grundprobleme, Tendenzen und Desiderata der Forschung« bewertet Frielingsdorf den Stand der Debatte und schlägt Konsequenzen für eine künftige Arbeit vor.

Hat die Waldorfpädagogik ihre Mission erfüllt?

Nach fast 100 Jahren waldorfpädagogischer Praxis und angesichts der Tatsache, dass vieles, was durch sie angeregt wurde, schon in andere Schulkonzepte und das staatliche Schulwesen aufgenommen worden ist, könnte man sagen, die Waldorfpädagogik habe ihre Mission erfüllt. Diese Arbeit zeigt, dass dem keineswegs so ist und dass es sowohl auf der Forschungs- als auch auf der Praxisseite noch viel Potenzial und Innovationsfähigkeit gibt. Aus Frielingsdorfs Arbeit lässt sich der Schluss ziehen, dass eher eine Phase verstärkter

Profilbildung ansteht. In dieser wird sich zeigen, ob die Waldorfpädagogik wirklich nur eine Spielart der Reformpädagogik und damit ein nettes Nischenprodukt ist oder ob nicht das, was Steiner für den Lehrplan wünschte, dass er für jedes Kind aus dessen individuellem Schicksal originär geschöpft wird, noch aussteht. Diesen Weg nicht nur innerhalb der Bewegung selbst, sondern mit interessierten und neugierigen Kollegen, also Forschern aus unterschiedlichen Richtungen zu gehen, kann zum Bau von Brücken führen. Für alle, die beruflich mit der erziehungswissenschaftlichen Debatte zu tun haben, für Lehrende und Forschende in Lehrersemi­naren und anthroposophischen Hochschulen, vor allem aber in den erziehungswissenschaftlichen Fakultäten, gehört dieses Buch zur Pflichtlektüre.

Literatur:

Volker Frielingsdorf: Waldorfpädagogik in der Erziehungswissenschaft: Ein Überblick, Juventa Paperback, kart., 248 S., EUR 24,95, Beltz Juventa, Weinheim/Basel 2012