Standard und Norm

Frank de Vries

In den Waldorfschulen gilt das Abitur als notwendiges Zugeständnis an die Bildungshoheit des Staates, der diesen Hochschulzugang verwaltet. Bei den Einführungskursen für Eltern der ersten Klassen wird schon nach dem Abitur gefragt. Dabei wird das staatliche Prüfungssystem längst von renommierten Erziehungswissenschaftlern in Frage gestellt.

Warum ist es in den vergangenen hundert Jahren nicht gelungen, einen eigenen Waldorfabschluss zur Anerkennung zu bringen? Wie könnte die Zukunft einer Waldorfoberstufe aussehen, wenn man auch nur einen kleinen Teil des pädagogischen Potenzials in der Praxis und in der Forschung auf die Entwicklung und Anerkennung eines eigenen Waldorfabschlusses verwenden würde?

Schon seit einigen Jahren werden in der deutschen Schulbewegung alternative Abschlussmöglichkeiten entwickelt und untersucht, damit waldorfspezifische Qualitäten und Inhalte, die in den staatlichen Abschlüssen nicht zur Geltung kommen, anerkannt werden. Daraufhin haben einige Waldorfschulen (vor allem in NRW) Berufskollegs eingerichtet, um neben der mittleren Reife und dem Abitur auch eine Berufsausbildung mit der Fachhochschulreife anbieten zu können. Bundesweit bietet zurzeit eine große Anzahl von Schulen das Abschlussportfolio der Waldorfschulen (APF) an. Auch auf europäischer Ebene wurden Alternativen diskutiert: das Internationale Bakkalaureat (IB), das European Portfolio Certificate (EPC) und das Steiner-School-Certificate (SSC). Es ist daher erstaunlich, wenn ein Vertreter der Waldorfpädagogik wie Jost Schieren diese Entwicklung in Frage stellt: »Darüber hinaus genießen die Waldorfschulen insgesamt in Deutschland gerade deshalb auch ein hohes Ansehen, weil sie den gesellschaftlich anerkannten Standard des Abiturs so gut erfüllen. Sollte die Absicht darin bestehen, das Abitur langfristig an Waldorfschulen abzuschaffen, so kämen auch diese in einen immerwährenden Rechtfertigungsdruck, den sie glücklicherweise auf dieser Ebene bisher nicht haben, und würden damit leichtfertig ihre hohe Reputation verspielen.«

Es geht um Persönlichkeitsbildung

Das traditionelle Instrumentarium der Leistungsbewertung wird den Anforderungen einer individualisierten Unterrichtspraxis nicht mehr gerecht. Die staatlichen Abschlussprüfungen stehen in einem direkten Widerspruch zu den Bildungszielen der Waldorfschulen. Bei den staatlichen Leistungstests und Prüfungen wird die Schülerpersönlichkeit auf ihre Leistung in wenigen ausgewählten Fächern reduziert. Kurzfristige Leistungsmessung erfasst wie in einer Momentaufnahme nur einen kleinen Ausschnitt der Wirkung des Unterrichts. Wesentliche Bildungsziele unserer Schulen treten bei den staatlichen Abschlüssen nicht in Erscheinung. Die schulische Lernleistung macht nur einen Teil des Bildungsauftrages aus. Die Qualität der Bildung und des Unterrichts erweist sich aber in der langfristigen Wirkung auf die Persönlichkeitsentwicklung. Doch diese kann man nicht messen oder kontrollieren, sondern höchstens dokumentieren.

Im Hinblick auf das Abitur beschreibt ein Schüler der Rudolf Steiner Schule in Bochum in einem bemerkenswerten Beitrag im Lehrerrundbrief den Stellenwert der Jahresarbeit und des Abschlussportfolios der Waldorfschulen: »Das gesamte Konzept dieser Arbeit (Jahresarbeit und Künstlerischer Abschluss) fordert in der Praxis, ob dies beabsichtigt ist oder nicht, neben der Persönlichkeitsentwicklung und den individuellen neuen Anreizen, welche die jeweilige Arbeit bietet, die Studierfähigkeit der Schüler/Innen. Dadurch wird der Waldorfabschluss mit der Jahresarbeit, anders als das Abitur, zu einer wirklichen Hochschulreife und zu einer sinnvollen Vorbereitung auf das bevorstehende, nicht mehr durch Schule geprägte Leben.« Dabei läuft die Jahresarbeit Gefahr, ihren Stellenwert als Schulabschluss zu verlieren. Sie wurde zum Teil entweder schon ganz aufgegeben oder als Projektarbeit in die 11. Klasse verlegt, damit die 12. Klasse für die Abiturvorbereitung entlastet wird. Die Waldorfschulen in Nordrhein-Westfalen kämpfen um den Erhalt ihrer 12. Klasse, weil die Schüler schon nach der 11. Klasse die Fachoberschulreife (mittlere Reife) erhalten. Jedes Jahr verlassen in NRW nach der 11. Klasse im Schnitt ungefähr 300 Schüler die Waldorfschulen. Einer Waldorfschule, die nicht zum Abitur führt, ist sogar ihre gesamte 12. Klasse abhanden gekommen – eine dramatische Entwicklung! Vor allem die Schüler, die das Abitur anstreben, besuchen die 12. Klasse und entsprechend wird das Curriculum der 12. Klasse auf das Abitur ausgerichtet. In vielen Schulen findet schon am Anfang der Oberstufe eine Leistungsdifferenzierung in Abiturienten und Nicht-Abiturienten statt. Oft ist damit eine Spaltung und der Zerfall der jahrelangen Lern- und Klassengemeinschaft verbunden.

Bei den staatlichen Prüfungsvorgaben und Leistungstests geht es um Kontrolle, Vergleichbarkeit und Einhaltung der Leistungsstandards. Es geht dabei um die formale Berechtigung, weiterführende Bildungseinrichtungen zu besuchen, wobei die Berechtigungshoheit im staatlichen Bildungswesen gleichzeitig auch ein Selektionsinstrument darstellt. Wesentliche Bildungsziele wie Eigenverantwortlichkeit oder Selbstbestimmtheit lassen sich durch Leistungstests weder prüfen noch messen. Jeder Mensch ist ein Einzelfall. Verallgemeinerungen sind Vereinfachungen. Sie beruhen auf statischen Aussagen, mit einem entsprechenden Fehlerrisiko.

Bildung als »Metamorphose«

Die Jugendzeit ist nach den Worten Rudolf Steiners »eine grandiose Metamorphose«. Sie hat einen eigenen Wert und eine eigenständige Aufgabe im Lebenslauf des jungen Menschen. Die freie Persönlichkeitsentwicklung kennt keine Standards, es geht dabei nicht um Normen und Kontrolle, sondern um Freiheit!

Die »grandiose Metamorphose« bezieht sich auf die physische, seelische und geistige Entwicklung, die im Jugendalter stattfindet. Der Jugendliche sucht nach Selbsterfahrungen und Selbsterkenntnis, die ihm Aufschluss über seine eigene Individualität verschaffen. Eine Pädagogik des Jugendalters ist nach Steiner eine »weckende Tat«, durch die der junge Mensch in die Lage versetzt wird, seine Individualität in Freiheit zu entfalten. Letztendlich soll der Lernprozess die schöpferische Fähigkeit und die Kreativität im Menschen wecken. Der Oberstufenlehrplan der Waldorfschule ist inhaltlich und altersspezifisch auf die Entwicklungspsychologie des Jugendalters ausgerichtet. Der Unterricht für Kopf, Herz und Hand in Verbindung mit Wissenschaft, Kunst und Handwerk zielt auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Tatsächlich werden dagegen in den Waldorfschulen durch die normative Ausrichtung der Pädagogik die Freiräume einer Oberstufenpädagogik, die der Persönlichkeitsbildung verpflichtet ist, immer mehr eingeschränkt.

Die waldorfspezifischen Fächer und das Oberstufencurriculum der Waldorfpädagogik werden durch die staatlichen Prüfungen verdrängt, wenn nicht in Zukunft die Schülerleistungen insgesamt in der Leistungsbewertung zur Geltung und zur Anerkennung gebracht werden. Steiner stellt radikale Forderungen an eine Pädagogik der Zukunft: »Was gelehrt und erzogen werden soll, das soll nur aus der Erkenntnis des werdenden Menschen und seiner individuellen Anlagen entnommen sein. … Nicht gefragt soll werden: Was braucht der Mensch zu wissen und zu können für die soziale Ordnung, die besteht; sondern: Was ist im Menschen veranlagt, und was kann in ihm entwickelt werden?«

Eine zukunftsgerichtete Unterrichts- und Schulentwicklung ist ohne eine Weiterentwicklung der Abschlüsse und der Leistungsbewertung nicht denkbar. Abschlussportfolios sind eine solche neue Form der Leistungsbewertung. Sie dokumentieren die Lernbiographie und den Kompetenzerwerb der Jugendlichen. Ein solcher Nachweis ist auf die Zukunft ausgerichtet, ist Möglichkeit und verweist auf den schöpferischen Prozess einer Handlung, indem der Schüler das Gelernte sich nicht nur aneignet, sondern verwandelt einsetzt. Der Waldorf-Schulabschluss wird zu einem Waldorf-Schulaufschluss für das Leben! ‹›

Zum Autor: Frank de Vries unterrichtete 37 Jahre die Fächer Deutsch, Geschichte, Kunstgeschichte, Religion und Philosophie in der Oberstufe der Rudolf Steiner Schule in Bochum und ist zurzeit Projektleiter des Abschlussportfolios der Waldorfschulen in Deutschland (APF-Waldorf).

Literatur: D. Kratzert: Mit der Zeit und mit Profil, Waldorfoberstufe als Vorbereitung aufs Leben, in: Lehrerrundbrief Nr. 104, 2016; J. Schieren: Kritische Gedanken zum SCC (Steiner-School-Certificate), in: Lehrerrundbrief Nr. 104, 2016; R. Steiner: Freie Schule und Dreigliederung, GA 24; R. Steiner: Die gesunde Entwicklung des Leiblich-Physischen als Grundlage der freien Entfaltung des Seelisch-Geistigen, GA 303; R. Steiner: Geistige Wirkenskräfte im Zusammenhang von alter und junger Generation, GA 217

www.apf-waldorf.de