The visible hand. Gemeinwohlökonomie – eine Zukunftsaufgabe für Unternehmen und Konsumenten

Rainer Müller

Heute wissen wir: Die Wirtschaft spielt nicht nur mit dem Schicksal des Menschen, sondern unseres gesamten Planeten! Sie dem ungehemmten Spiel von Angebot und Nachfrage zu überlassen und dabei immer noch an die »unsichtbare Hand« von Adam Smith zu glauben, entpuppt sich als historischer Irrtum und moderner Aberglaube. Das Kräftespiel von Einzelegoismen soll sich, so meinte man über 200 Jahre lang, zuletzt als Vorteil für alle erweisen. Die Rechnung dieses Irrglaubens bekommt die Welt heute ökologisch und sozial voll zu spüren. Deshalb ist ein menschen- und naturgerechtes Wirtschaftssystem, das auch den internationalen Marktzugang nach ethischen Werten und Regeln verbindlich festschreibt, das Gebot der Stunde. Entsprechende Absichtserklärungen gibt es in vielen Verfassungen, doch bleiben sie oft genug theoretischer Überbau, der in der Praxis durch rücksichtsloses Freibeutertum einzelner Wirtschaftsakteure unterwandert und ausgehebelt wird. Das gleiche Schicksal erlitt auch die sogenannte »Soziale Markt- wirtschaft«, die dank der real existierenden internationalen »Machtwirtschaft« nur noch auf dem Papier steht.

In Rudolf Steiners Soziallehre wird dem Wirtschaftsleben die natürliche Eigenschaft der Brüderlichkeit gegeben, was systemisch betrachtet bedeutet, dass es erst dann im sozialen Organismus seiner Aufgabe gerecht werden kann, wenn es dem Gemeinwohl dient. Von diesem Grundgedanken geht die 2010 in Österreich entwickelte Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) aus. Zusammen mit einer Unternehmergruppe entwickelte Christian Felber, Mitbegründer der kapitalismuskritischen Bürgerbewegung Attac-Österreich, das Konzept der GWÖ mit dem Herzstück der Gemeinwohl-Bilanz und ihren 20 Indikatoren, die er in einem Buch erstmals 2010 der Öffentlichkeit vorstellte. Heute ist daraus eine weltweite Bewegung für ethisches Wirtschaften entstanden mit 11.000 Unterstützern, 2.000 Aktiven, über 100 Regionalgruppen, 30 Vereinen – mit allein im deutschsprachigen Raum 500 bilanzierten Unternehmen in 50 Städten und Gemeinden sowie 200 engagierten Hochschulen.

Sinn und Zweck erkennen

Die heute schon für Unternehmen verpflichtende Finanzbilanz beschränkt sich ja nur darauf, die Geldflüsse des Unternehmens abzubilden; sie sagt nichts über dessen gesellschaftliche Relevanz und seine Gemeinwohlaufgabe aus. Was ein Unternehmen in seinem Kerngeschäft auf diesen Gebieten leistet, wird bei der Gemeinwohlbilanz mit Punkten bewertet und dadurch als Gemeinwohl-Produkt messbar. Systemisch strebt die GWÖ an, dass nicht mehr diejenigen Produkte die billigsten sind, welche durch Umgehung von Umweltvorschriften und sozialer Ausbeutung entstehen, sondern dass umgekehrt die Gemeinwohlleistungen eines Unternehmens durch differenzierte Steuersätze vom Staat begünstigt werden, damit Unternehmen, die das Gemeinwohl fördern, sich gegen die Billiganbieter behaupten können.

Die Auswirkungen wären:

• langlebige, nachhaltige Produkte setzen sich durch

• mehr Wertschöpfung bleibt in der Region

• gute und sinnvolle Arbeitsplätze entstehen

• der Umgang in den Betrieben wird menschlicher

• die Ungleichheit geht zurück

• Umwelt und Klima werden global entlastet.

Die erste GWÖ-Bilanz eines Unternehmens spiegelt zunächst den Istzustand und gibt den Beteiligten durch das Anschauen der Beziehungsqualitäten im Inneren (Mitarbeiter) und im Äußeren (Lieferanten, Kunden, Region) einen neuen Sinnzusammenhang des eigenen Tuns. Sie zeigt, wie das Unternehmen stärker zum Gemeinwohl beitragen könnte, was dann durch eine zwei Jahre später erstellte Nachfolge-Bilanz sichtbar wird. Insofern stellt die GWÖ-Bilanz ein ganzheitliches Entwicklungsinstrument für Unternehmen dar. Wie Unternehmer berichten, stiftet das Sinn innerhalb des Betriebs und erhöht die Wertschätzung außerhalb.  Das zieht besonders motivierte Bewerber und neue Kunden an.

Auch Waldorfschulen befassen sich zunehmend mit der GWÖ-Bilanz. 2017 hat die Freiburger Schule »Am Rieselfeld« – initiiert und durchgeführt durch Schüler der Oberstufe – eine erste derartige Bilanz veröffentlicht. Aktuell hat jetzt auch die Waldorfschule Wetterau eine GWÖ-Bilanzierung abgeschlossen. Aus gutem Grund hat die GWÖ von Anfang an Unternehmen als die primäre Zielgruppe für eine Transformation unserer Wirtschaft angesehen. Heute wird in der Bewegung jedoch zunehmend erkannt, welche entscheidende Rolle der Konsument im Gesamtsystem unserer Marktwirtschaft spielt. Dazu wurde auch ein GWÖ-Kundenwunschzettel (KWZ) entwickelt, der dem Ver­braucher die Möglichkeit gibt, mit seinem Lieferanten in einen »Nachhaltigkeitsdialog« zu treten.

Souverän sein und nicht verführt werden

Für Produktion und Handel ist der Konsument in der Regel nur Objekt gewinnorientierter Marktstrategie, die ihm gegenüber als Verführer auftreten und ausschließlich an der Steigerung seines Konsumvolumens interessiert sind, nicht aber an seinem wirklichen Bedarf als Subjekt. Der Konsument kann eben nicht wie ein souveräner Auftraggeber bestimmen, was er in welcher Menge und zu welchem natur- und erzeugergerechten Preis wirklich braucht.

Nun könnte man einwenden: Aber der Konsument bringt doch durch das, was er kauft, zum Ausdruck, was er braucht; er hat doch in der Hand, was – quasi als Echo seiner täglichen Einkäufe – durch Produktion und Handel nachgeliefert wird. Ein solcher mehr oder weniger regulativer Einfluss des Konsumenten ist sicher nicht ganz abzustreiten. In Wirklichkeit macht es aber einen großen Unterschied – sowohl im individuellen Verbrauch, wie im Ressourcenverbrauch der Menschheit –, ob der Konsument verführt und paralysiert durch die Magie des Überflusses einem (prinzipiell endlosen) Habensdrang erliegt, oder ob er als verantwortlicher Zeitgenosse von unabhängigen »Konsu­menten- räten« nach seinem wirklichen menschen- und naturgerechten Bedarf befragt wird und ob er diesen souverän und systematisch und produktionsbestimmend marktwirtschaftlich einbringen kann.

Machen wir uns klar, dass wir heute schon global pro Jahr eineinhalb Erdenvorräte verbrauchen – einzelne Länder auch deutlich mehr. Deutschland hat einen Jahresverbrauch von drei Erden – Tendenz steigend. Damit steht der Konsument vor einer wichtigen Zukunftsaufgabe: Er muss das mittlerweile luxuriös gewordene, volkswirtschaftlich und ökologisch nicht mehr zu verantwortende System der Angebotswirtschaft durch eine konsumentengetriebene, »Demokratische Bedarfswirtschaft« ablösen.

Vermutlich wären wir alle überrascht, wie lebensgemäß und maßvoll der wirkliche Bedarf des Verbrauchers tatsächlich ist. Es ist davon auszugehen, dass Bedarfserhebungen durch neutrale zivilgesellschaftliche Organisationen wirklichkeitsgemäßer und dem Gemeinwohl dienlicher ausfallen, als die Ergebnisse sogenannter Marktforschung.

Bei Rudolf Steiner finden wir dazu schon 1914 folgende Ausführungen: »Es wird also heute für den Markt ohne Rücksicht auf den Konsum produziert [...]« und »man stapelt in den Lagerhäusern und durch die Geldmärkte alles zusammen, was produziert wird, und dann wartet man, wieviel gekauft wird. Diese Tendenz wird immer größer werden, bis sie sich […] in sich selber vernichten wird. Es entsteht dadurch, daß diese Art von Produktion im sozialen Leben eintritt, im sozialen Zusammenhang der Menschen auf der Erde genau dasselbe, was im Organismus entsteht, wenn so ein Karzinom entsteht. Ganz genau dasselbe, eine Krebsbildung, eine Karzinombildung, Kulturkrebs, Kulturkarzinom!«

Steiner entwickelte später aus diesen Einsichten heraus das Konzept der »Assoziativen Wirtschaft«, deren Steuerung auf Absprachen der »Konsumgenossenschaften« mit den Produzenten und dem Handel beruht. Wenn man bedenkt, dass zu Steiners Zeiten die ökologische Frage – das Zu-Ende-Gehen der Weltvorräte und die Notwendigkeit einer sparsamen Postwachstums-Ökonomie – in ihrer heutigen Dringlichkeit noch gar nicht gestellt war, erscheint dessen Vorausschau und Kritik – nämlich eine nicht mit dem Konsumenten abgesprochene Überproduktion – geradezu prophetisch.

Konsumenten werden Auftraggeber

Der Konsument als »Auftraggeber der Wirtschaft« – ein solches neues Selbstverständnis des Verbrauchers wäre Voraussetzung, um die notwendige Initiative für eine lebensgerechte »demokratische Bedarfswirtschaft« in die Hand nehmen zu können und damit aus der »Bevormundung durch Verführung« herauszukommen. Einige gute Beispiele gibt es bereits: Die »Solidarische Landwirtschaft« (Solawi), die sehr erfolgreiche südkoreanische Konsumenteninitiative »Hansalim«, das französische konsumentenzertifizierte Produktlabel »C’est qui le Patron?« sowie die 2015 in Deutschland und Europa gegründeten »Ernährungsräte«.

Von Berlin bis Zürich gibt es heute bereits 21 solcher regionaler Initiativen, die meisten von ihnen stehen in engem Kontakt mit den landwirtschaftlichen Erzeugern ihrer Region. Ein weiteres Beispiel ist die »Slow Food«-Bewegung mit ihrem internationalen Dachverband für Ernährungssouveränität »Nyeleni«. Im anthroposophischen Bereich gibt es den »Schweizerischen Konsumentenverband«, der sich rund um die biologisch-dynamische Landwirtschaft gebildet hat und – unter Bedarfsabstimmung zwischen Konsumenten und Landwirten – die »assoziative Wirtschaftsweise« Steiners verwirklicht.

Die Bewegung der Gemeinwohl-Ökonomie, ihre rasante Entwicklung, internationale Verbreitung und Anerkennung ist ein hoffnungsvoll stimmendes Beispiel dafür, dass wir nicht auf die Politik warten müssen, um ein nachhaltiges Wirtschaften zu realisieren. Wir können auch gar nicht auf die Politik warten, da diese viel zu sehr vom System der Profitmaximierung bestimmt wird. Dafür sorgen in Berlin und Brüssel bestens eingebundene Lobbyisten – offiziell gibt es in Deutschland rund 600, ausgestattet mit eigenem Schlüsselzugang und oft mit voll ausgestatteten Büros. »Abgeordneten Watch« berichtet allerdings von weiteren 1000 Lobbyisten, die im Geheimverfahren zusätzlich aufgenommen wurden. Bundeskanzlerin Angela Merkels Parole von einer »marktkonformen Demokratie« zeigt, woran sie sich orientiert.

Internationale CSR-Zertifizierungs-Rahmenwerke (Corporate Social Responsibility – Unternehmerische Gesellschaftsverantwortung) gibt es schon seit Jahrzehnten. Überwiegend wurden sie bisher aber nur auf Hochglanzbroschüren der großen Unternehmen zum »Greenwashing« genutzt. Es musste erst eine wirtschaftsunabhängige Bürgerinitiative kommen, wie die GWÖ, um die Widersprüche und zerstörerischen Tatsachen unseres lebensfeindlichen Wirtschaftssystems klar zu benennen und den notwendigen Paradigmenwechsel hin zu einer konsequenten Gemeinwohl-Ökonomie auszurufen.

Was wir heute als verantwortliche Bürger nicht selbst in die Hand nehmen, wird nicht geschehen! Die Zeit drängt für eine lebensnotwendige Transformation unserer Wirtschaft!

Zum Autor: Rainer Müller ist Koordinator der Gemeinwohl-Ökonomie Region Stuttgart

Literatur: V. Engelsman, B. Geier: Die Preise lügen – Warum uns billige Lebensmittel teuer zu stehen kommen, München 2018; C. Felber: Die Gemeinwohl Ökonomie, München 22018; R. Müller: König Kunde – Kurzgeschichten für Konsumenten, Stuttgart 2018; N. Paech: Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg zu einer Postwachstumsökonomie, München 2012

Hinweis: Am 2. Oktober 2018 unterzeichneten die Vertreter der neun existierenden Ländervereine der Gemeinwohl-Ökonomie die Gründung des Internationalen Verbands. www.ecogood.org