»Unser innerer Dialog ist niemals abgebrochen«

Gisela Mayer, Thomas Stöckli

Thomas Stöckli | In Ihrem Buch kritisieren Sie die Schule als ein System, das Selektionsdruck ausübt: zu viel Stoff und zu wenig Zeit für die Schüler. Wie könnte eine menschengemäße Schule aussehen?

Gisela Mayer | Die Schule muss als Lebensraum verstanden werden. Kinder müssen das Leben lernen, nicht nur Mathematik oder Deutsch – was natürlich auch wichtig ist, aber letztlich nicht das Wesentliche. Es wird keine Zukunft geben, wenn wir die Schule nicht neu verstehen. Die Waldorf­schulen setzen in dieser Hinsicht schon sehr viel Positives um, ich schätze sie sehr. Ich selber kämpfe an der Staatsschul-Front, da gilt es, menschliche Inseln einzupflanzen. Den Gedanken erweiterter Praktika »im Leben draußen«, den halte ich auch an staatlichen Schulen für ausbaufähig. So lernen die Jugendlichen echte Verantwortung und Empathie, die lernt man ja nicht aus Büchern, sondern durch persönlichen Einsatz, zum Beispiel in einem Altenheim. Wir müssen den selbstverständlichen Umgang mit Kranken, Alten und Behinderten üben – nicht die Exkursion ins Altenheim als »exotischen Ort«, sondern gemeinsame Arbeit mit anderen Altersgruppen in Projekten. Das verstehe ich unter einer menschlichen Schule, die mit dem sozialen Umfeld verbunden ist.

TS | Sie meinen eine Art Lebensschule?

GM | Richtig, aber Schule als Lebensschule bedeutet nicht einfach, die Kinder vorzubereiten, damit sie später mal lebenstauglich werden. Das wäre grundfalsch. Es wäre wieder eine neue Instrumentalisierung des Menschen, das typische Zweckdenken unserer Zeit. Für den Bereich der Technik ist das in Ordnung. Wir behandeln Menschen aber wie Maschinen und wundern uns, warum wir das nicht ertragen können, warum wir darunter leiden und uns wehren – und sei es mit Gewalt. In einem solchen Leben, das letzten Endes ein perfektes Produkt sein soll, ohne Werden und ohne Vergehen, muss der Tod ausgeklammert werden. Der Tod zeigt uns die Grenze der Verfügbarkeit, der Planbarkeit. Das ist es, was wir nicht ertragen können. Umso wichtiger ist es in einer Schule der Zukunft, unsere Kinder zurückkehren zu lassen zur Praxis des Lebens, zur Muße, zum Leben im Jetzt. Die Schule ist eben nicht die Vorbereitung auf etwas, das erst danach beginnt, die Schule ist wesentlicher Teil des Lebens jetzt.

TS | Woran krankt das Schulsystem am meisten?

GM | An der Entfremdung. Wir schicken unsere Kinder in den Kindergarten, um sie auf die Schule vorzubereiten, die Schule bereitet sie auf das Studium und den Beruf vor. Im Berufsleben wird vieles getan, um etwas anderes zu erreichen. Letztlich bereiten wir uns auf das Alter und das Ende des Lebens vor. Wir sind nie da, wo wir gerade sind, wir sind nie authentisch und werden dem Mitmenschen gegenüber kalt und verpassen das gelebte Mitgefühl. Genau da muss eine neue pädagogische Haltung ansetzen. Letztlich geht es um einen Gesinnungswandel unserer Gesellschaft. Sonst holen uns Ereignisse ein, die uns endlich wachrütteln sollen, wie als Extrembeispiel so ein Amoklauf an einer Schule.

TS | Wo ließe sich konkret ansetzen?

GM | Das Kernproblem ist für mich die Leistungsbewertung durch Noten. Wir haben gegenwärtig eine in Ziffern gefasste Bewertung von Menschen, die menschenverachtend ist. In Gefängnissen werden Menschen als Ziffernfolge codiert. Mit gutem Grund. Die Entpersonalisierung ist ein Teil der Strafe, ist doch der Name Symbol der Wertschätzung der Person. Was aber heißt dann, »das ist ein Einserschüler«? – Meist nichts anderes, als »er ist in der Lage, auswendig Gelerntes erfolgreich zu reproduzieren«. Er ist keine Person, sondern eine Funktion. Wenn wir nun auch noch berücksichtigen, dass die Schulzeit die Zeit der Pubertät, der Persönlichkeitsbildung umfasst, dann können wir ermessen, welches seelische Verbrechen wir an unseren Kindern begehen. Wir müssen in dieser Hinsicht völlig neue Wege gehen! Die Waldorfschulen zeigen ja, dass es auch ohne dieses Ziffernsystem geht ... Und eine Schule ohne ein Menschenbild, das den Menschen in seiner Würde respektiert, ist eben auch Ursache von Gewalt und all der Jugend­probleme, die wir alle kennen.

TS | Sind Sie und Ihre verstorbene Tochter religiös?

GM | Ja, ich bin religiös, dies ist wohl einer der Grundpfeiler meiner Arbeit. Meine Tochter war auch nicht aus Zufall Religionslehrerin und hat sich über das erforderliche Maß hinaus engagiert. Wir sind beide aber nicht einfach in ein religiöses Leben hinein gewachsen, sondern es hat sich uns erst nach Zweifeln und inneren Kämpfen aus einer bewussten Entscheidung ergeben – einer Entscheidung für die Werte eines christlichen Lebens. Wir suchten dabei weniger die Worte als Taten.

TS | Ihr Buch hat mich auch deshalb beeindruckt, weil es zeigt, wie jemand einen inneren Dialog mit einem geliebten Menschen auch nach dem Tod führen kann.

GM | Für mich ist mein Verhältnis zu meiner Tochter sehr lebendig geblieben. Der Schmerz raubt mir zwar manchmal auch heute noch den Atem, aber ich fühle eine so tiefe innere Verbundenheit und nach wie vor eine so lebendige Beziehung, dass es fast natürlich wäre, wenn sie plötzlich ins Zimmer treten würde.

Die Liebe und die Freude am Leben, die sie besessen hat, haben ihr irdisches Leben überdauert und leben in mir weiter. Ich spreche nach wie vor in Gedanken mit ihr, keine schmerzvollen großen Worte, sondern Alltägliches wie zuvor. Es gibt auch heute noch ein gemeinsames Leben – auf eine andere Weise. Unser innerer Dialog, wie Sie ihn nennen, ist niemals abgebrochen. Allerdings weicht der große Schmerz einer tiefen inneren Ruhe und Liebe und dem sicheren Wissen, dass dies niemals genommen werden kann.

Buchtipp: Mayer, Gisela: Die Kälte darf nicht siegen. Was Menschlichkeit gegen Gewalt bewirken kann. 221 S., geb. Ullstein Verlag, Berlin 2010 (siehe auch die Besprechnung in Heft 09 | 2010, Seite 61. Online finden Sie die Besprechung hier.