Von der Himmelswiese in die Kampfarena. Faszination Fußball

Fabrizio Venturini

Schon die alten Ägypter kickten

Verbreitet ist die Auffassung, das Fußballspiel sei im 19. Jahrhundert in England entstanden. Doch damals wurden nur die heute noch gültigen Regeln festgelegt. Das Spiel selber ist viel älter. Wer aufmerksam durch Florenz geht, stößt auf dem Platz vor Santa Croce auf eine Steinplatte aus dem Jahre 1689, die den schon im 15. Jahrhundert beliebten »Calcio« darstellt: ein Fußballspiel der Stadtbezirke gegeneinander. Bis ins 9. Jahrhundert reichen Zeugnisse zurück, die das Fußballspiel in der Normandie belegen. Es gibt Hinweise, dass das Spiel schon in der Antike bekannt war, zum Beispiel eine Stele, die einen mit dem Fuß Ball spielenden göttlichen Jüngling darstellt. Aus Ägypten gibt es ähnliche Grabbilder. Auch in Mittelamerika findet man verschiedene Darstellungen, die belegen, dass das Spiel zuerst allein den »Göttern« vorbehalten war. Doch die Geschichte des Fußballspiels reicht noch weiter zurück.

Nachahmung des Kosmos und Wehrertüchtigung

Die allerersten Ursprünge des Fußballspiels in China sind nicht belegbar. Durch Zusammenschau verschiedener Darstellungen ergibt sich jedoch folgendes Bild: Die erste Art des Spiels wurde auf der »Himmelswiese« des Kaiserhofes von im Kreis stehenden Artisten präsentiert, die den weichen Ball kunstvoll mit den Füßen und allen Körperteilen außer den Armen und Händen in schönen Bögen in die Höhe spielten, ohne dass er den Boden berühren durfte, während sie gleichzeitig mit beiden Händen lange Bänder schwangen. Letzteres erklärt, warum man die Hände nicht benutzen darf. Man vermutet, dass das Spiel kosmische Bewegungsabläufe symbolisierte und der Ball die Sonne darstellte. Die Bewegungen waren sanft und harmonisch; beim Flug des Balles kam es auf Abwechslung und Schönheit an, er sollte die schwingenden Bänder umspielen, ohne sie zu stören. Wettkampf, Mannschaften und Tore gab es noch nicht, erst zum Abschluss des Spieles wurde der Ball in ein Fangnetz befördert. Das Spiel war mehr Darstellung von etwas als Kampf um etwas (Theo Stemmler); es wurde nur dem kleinen Kreis von Eingeweihten um den Kaiser gezeigt, der die Symbolik der Himmelsbewegungen verstand. Die ersten Datierungen dieses Spiels reichen bis ins 3. Jahrtausend vor Chr. zurück.

Eine zweite Variante verbreitete sich nur wenig später. In den niederen Graden der militärischen Einweihung soll der legendäre Herrscher Huang-ti im Jahre 2697 v. Chr. das »ts'uh küh« (wörtlich: das Ballspiel, das mit dem Fuß gespielt wird) eingeführt haben, das bald sehr beliebt war. Es handelte sich um ein Mannschafts- und Kampfspiel, das in erster Linie der Wehrertüchtigung der Soldaten diente. Bei diesem Spiel sollte der Ball möglichst flach fliegen, weit getreten und in die Spielhälfte des Gegners getrieben werden – in England später »kick and rush« genannt. Stangen markierten das Spielfeld und die Tore ohne Netz. Alle waren »Torhüter« und »Verteidiger« beim Rückzug und alle »Stürmer« beim Angriff.

Es herrschte strenge Disziplin, um Chaos zu vermeiden. Beide Formen des Spiels blieben in Asien lange Zeit nebeneinander bestehen. Noch heute findet man Überreste davon. In der meditativen Balljonglage, im Japanischen »kemari« (»Sonnenball«) genannt, und dem kontrollierten Gegeneinanderspielen in einer volleyballartigen Version in China, bei welcher das Tor in der Mitte des Spielfelds über dem Netz angebracht ist, durch das hindurchgetroffen werden muss. Die kosmischen Bezüge des Ballspiels schimmern in der Spielerzahl Elf und in vielen Abmessungen immer noch durch.

Das Individuum tritt hervor

Warum das Spiel in Asien größtenteils in Vergessenheit geriet, lässt sich nur vermuten: Das Interesse an symbolischen »Himmelsspielen« könnte mit dem »Irdischwerden« der Menschen abgenommen haben und die militärische Variante passte wohl nicht in die Bemühungen, ein einheitliches Großreich zu schaffen: in China rückte das Organisieren großer Massen in den Vordergrund. Aber Fußball ist kein Spiel, das die Uniformität fördert. Die Auferstehung dieses Sports beginnt in Europa in der Renaissance, dem Zeitalter der Geburt der Individualität. Im modernen Spitzenfußball zeigt sich deutlich seine individualistische Tendenz: Die künstlerische Ballfertigkeit nimmt zu, der geniale Einzelspieler, dem einen Moment lang ein Freiraum geschaffen wird, führt die Mannschaft zum Sieg. Eine Meistermannschaft zu feiern, ohne die Einzelspieler zu kennen, ist undenkbar.

Kennzeichen des modernen Fußballspiels

Fußball ist sehr abwechslungsreich und kann spannend sein wie kaum ein anderes Spiel. Es vereinigt Athletik, Artistik und Taktik. Man muss lauffreudig sein, schnell, konditionsstark, ausdauernd; muss Ballgeschick haben, wendig sein, dribbelstark; muss Empfinden für die Stärke des Schusses haben und gut zielen können, um genaue Pässe zu schlagen; braucht Situationsgefühl, muss im richtigen Moment am entscheidenden Ort sein, verlässlich den Gegner decken und selber Überraschendes machen; man muss antäuschen, Finten schlagen, den Gegner ins Leere laufen lassen; man braucht ein blindes Verständnis für die eigenen Mitspieler, Freude am Zusammenspiel, Raumgefühl, Übersicht; man muss im geeigneten Moment auf Risiko spielen und im nächsten auf Sicherheit; man versucht dem Gegner die eigene Spielweise aufzuzwingen und ihn aus seinem Konzept zu bringen; man braucht Nervenstärke, motiviert sich selbst und seine Mitspieler und provoziert den Gegner. Man muss vor allen Dingen Tore machen: mit dem Fuß, der Hacke, dem Knie, dem Rumpf, dem Kopf oder Hinterkopf und mit all dem die Schüsse des Gegners verhindern. Fußball ist, wie ein berühmter Spieler sagte, »in Vollendung praktiziert, eine Kunst« (Alfredo Di Stefano).

Doch das wichtigste Kriterium, um das Eigentümliche des Fußballspiels zu erfassen, ergibt sich, wenn man auf das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft bei diesem Spiel achtet. Es herrscht ein ständiger Wechselbezug. Weder mit totaler Uniformität noch mit chaotischem Individualismus kommt man an die Spitze. Die Weltklasse zeigt sich in verschiedenen Varianten. Bei der WM treffen aufeinander: das meisterhafte Kurzpassspiel der Spanier, der Ballzauber der Brasilianer, die vielfältige Taktik der Italiener und Argentinier, die magischen Momente der Afrikaner, das technische Können der Asiaten, das ausgeprägt Athletische der Engländer, das Kollektiv mit genialen Individualisten bei den Osteuropäern, die starken Individualisten mit mannschaftlicher Disziplin bei den Deutschen. Und jede Mannschaft ist in der Lage, Überraschendes zu bieten, das von einem Einzelnen ausgehen kann und alle mitreißt, oder von der ganzen Mannschaft geschlossen gewollt und von jedem Einzelnen entschlossen umgesetzt wird.

Beim Handball fallen viel mehr Tore als beim Fußball, das viel öfter 1:0 als 5:4 und oft auch unentschieden oder torlos ausgeht. Dafür gewinnen beim Fußball die Spielzüge mehr an Breite, zeigen viele Möglichkeiten der Kombination, und vor allem treten die gelungenen oder misslungenen Aktionen des Einzelnen und natürlich seine Tore viel stärker in die Wahrnehmung und bleiben länger in Erinnerung. Fußball lässt sich in seinen Spielszenen goutieren und nachschmecken – darum ist es im Fernsehen so beliebt.

Gefährlicher Fanatismus

Problematisch an der heutigen Entwicklung des Fußballs sind die zu starke Erfolgsorientierung und der Fanatismus. »Hauptsache Tor, Hauptsache gewonnen« – diese Einstellung kann überhand nehmen bei Spielern und beim Publikum. Rudolf Steiner hat entgegen mancher Behauptungen nie etwas Abfälliges über den Fußball gesagt, wohl aber über den Fanatismus und die rohe Art der Fußballanhänger, die er bei einer Anreise zu Vorträgen in England am Rande erlebte. Das »Arena-Spektakel« hat Folgewirkungen. Es mündet in gewalttätige Ausschreitungen und die Sucht, um jeden Preis siegen zu wollen, frisst die Seelen auf. Bei Erfolg gerät man völlig aus dem Häuschen – die Spieler machen nach Toren einen Überschlag –, bei Enttäuschung beginnt der Betreffende unkontrolliert zu stauchen und zu treten. Von Kindern werden solche Gesten nachgeahmt und die Emotionen wirken auf ihre Seelenentwicklung. Darin lauern die »Abgründe des Sports« (Hermann Poppelbaum).

Das Fußballspiel in der Schule

Eine kindgerechte Pädagogik muss beachten, welche Anforderungen und Förderungen in welchem Alter angebracht sind. Beobachtungen beim Spiel von Kindern zeigen, dass beide ursprünglichen Arten, sowohl die mit Ballgeschicklichkeit verbundene Bemühung, den Ball in der Höhe zu halten, als auch die Variante mit dem Kicken und Rennen, früh geübt werden, noch bevor das Kind daran denkt, in einen Sportverein zu gehen. Solitär veranlagte Kinder üben mehr das eine, die eine prickelnde Aggression liebenden mehr das andere. Wer mehr zum Kosmos hin orientiert ist, liebt den schwebenden Ball in der Luft, wer mehr auf das Irdische gerichtet ist, den rollenden Ball am Boden. Doch so sehr die Kinder den Umgang mit dem Ball auch lieben: Zum Mannschaftssport müssen sie erst heranreifen.

Ein Erfordernis beim Fußball ist, dass der Körperschwerpunkt tief liegen muss, wenn man erfolgreich sein will; der Wille muss im Fußgelenk, ja in den Fußspitzen sitzen. Das ist normalerweise vor der Pubertät nicht der Fall. Bei der Frage, ob man Fußball an der Schule anbieten soll, empfiehlt es sich daher zu differenzieren: vor der Oberstufe eher nein. Ballgeschicklichkeitsübungen mit Händeklatschen an der Wand oder am Netz kann man schon früher machen lassen, Slalomlaufen mit dem Ball auch, aber gerade das Kicken, Schießen oder Köpfen ist in frühem Alter abträglich für das Finden eines gesunden Verhältnisses von Körper und Seele. Vermieden werden sollte in jedem Fall die Haltung, die die mechanischen Tippkickfiguren so deutlich vormachen: Man hält sie an der Brust, drückt auf den Kopf und schon schnellt der Fuß zum Kicken des Balls. Kinder, die in dieser steifen Art wild um den Ball kämpfen, befinden sich in großer körperlicher und seelischer Verletzungsgefahr, denn bei einem Stoß empfinden sie »der andere hat mich getreten« – und zwar »von unten«, also in gemeiner Art. Der »untere Mensch« kommt beim Fußball stärker zum Einsatz als bei anderen Sportarten. Fußball kann das Herunterkommen des Sonnenhaften auf die Erde und das Heraufheben des Selbstgefühls in die Illusion eines Wertes fördern. Dafür stehen Sprüche wie »Das Runde muss ins Eckige« und »Fußball ist unser Leben«. Er kann sich dabei aber auch mit Ruhm und Fanatismus sowie mit Geld und Macht verquicken. Es ist daher angebracht, im Pädagogischen vorsichtig damit umzugehen. – Allerdings ohne deswegen falsche Mythen zu erfinden: Fußball ist nicht aus dem Herumkicken von Totenköpfen entstanden und Rudolf Steiner hat niemals ein Verbot des Fußballspielens an Waldorfschulen ausgesprochen.

Zum Autor: Fabrizio Venturini, langjährig tätig als Dozent am Waldorferzieherseminar Stuttgart, in der Jugend Fußballspieler beim VfB Stuttgart.

Literatur: Theo Stemmler: Kleine Geschichte des Fußballspiels, Frankfurt am Main 1998; Sabrina Loi: (Mythos) Fußball – Eine Entwicklungsgeschichte, München 2007; Johannes Dräxler/Harald Braun: Kleine Philosophie der Passionen: Fußball, München 2006; Hermann Poppelbaum: Die Untergründe des Sports, Dornach 1973