Waldorfpädagogik im Silicon Valley

Erziehungskunst | Herr Mitchell, warum hat der Artikel über die Rudolf Steiner Schule im Silicon Valley ein so großes Echo hervorgerufen?

David Mitchell | In diesen ökonomisch schwierigen Zeiten werden die Amerikaner kritischer. Das übliche »Auf die Plätze, fertig, los«, in dem der Wille zum Handeln vorherrschte, ist dem Wunsch gewichen, sich über die Ziele klarer zu werden, bevor man handelt. Man hat festgestellt, dass Schulbezirke auch mit geschrumpften Budgets hohe Kosten für teure Technologie schultern müssen, die binnen kurzem veraltet ist und ständig der Erneuerung bedarf.

Die Werbung der Technologiefirmen hat die meisten Eltern davon überzeugt, dass ihre Kinder die neuesten technischen Spielzeuge benötigen, damit sie den Anschluss nicht verlieren. Unser staatliches Schulwesen steht vor einem Berg von Problemen, hat kein klares Menschenbild und Studien haben gezeigt, dass Technologie die Probleme im Klassenzimmer nicht löst. Die Skepsis gegenüber dem Einsatz von elektronischen Geräten zwischen dem Kindergarten und der achten Klasse hat zugenommen. Die Menschen halten nach Alternativen Ausschau und der Artikel der »New York Times« beschrieb eine solche Alternative. Er hat einen Nerv getroffen.

EZ | Wie viele Eltern, die ihre Kinder in die Schule im Silicon Valley schicken, arbeiten in der Computer- oder Softwarebranche? Können Sie einige Namen nennen?

DM | Eine Untersuchung zeigt, dass von 75 Prozent der Eltern­häuser der Waldorfschule wenigstens ein Elternteil in der Hightech-Industrie arbeitet. Die Elternschaft der Schule ist gut informiert und hoch gebildet.

Einige Eltern waren mit der Nennung ihres Namens einverstanden, andere wollten lieber anonym bleiben – etwa 15 Angestellte von Apple, die aufgrund ihrer Arbeitsverträge nicht mit der Presse sprechen dürfen: Hier einige prominente Namen: Ebay Chief Technology Officer Mark Carges, der Vizepräsident von Google Joerg Heilig und der Google-Direktor Alan Eagle, der frühere Vizepräsident von Cisco, jetzt CEO bei Power Assure Brad Wurtz, der Vizepräsident und General Manager der XCommerce-Abteilung bei Ebay, Matthew Mengerink, dann Pierre Laurent, früher bei Intel und Microsoft, jetzt Leiter eines Hightech-Startup-Unter­nehmens.

EZ | Hat die Philosophie der Schule einen Einfluss auf die Einstellungen der Eltern der Computertechnologie gegenüber? Die Elternabende müssten bei diesen großen Gegensätzen doch sehr spannend sein?

DM | Nun, die Eltern wissen über die Schule Bescheid und haben ihre Kinder angemeldet, weil sie genau wissen, was sie ihren Kindern wünschen. Sie schätzen an der Schule die klare Ausrichtung und dass sie ohne Kompromisse dafür einsteht. Einige haben deutlich gemacht, dass die Computerwelt nicht die Welt der Erziehung ist: Sie wünschen sich für ihre Kinder eine Umgebung, die Kreativität fördert. Sie kennen die empirische Untersuchung über ehemalige Waldorfschüler, die gezeigt hat, dass Waldorfschüler ihre Schule wegen des vielfältigen Angebots, des Bilderreichtums und des Humors schätzen und weil sie in ihnen die Bereitschaft hervorgerufen hat, ein Leben lang zu lernen. Die Untersuchung hat auch gezeigt, dass 94 Prozent der Ehemaligen an Colleges oder Universitäten gegangen sind. Die Befragung reichte bis in die 1940er Jahre zurück.

EZ | Spielt die Waldorfpädagogik auch in den großen Software- und Hardwarefirmen eine Rolle, vielleicht in Betriebs­kindergärten? Gibt es Äußerungen bekannter Firmenmitarbeiter zur Waldorfpädagogik?

DM | Es gibt viel Zustimmung von Eltern. Aber die Firmenpolitik erlaubt nicht immer eine öffentliche Unterstützung. Einige darf ich zitieren. Shannon Weidemann, eine 36-jährige Marketingspezialistin in Sterling Heights in Michigan, schickt ihre sechsjährige Tochter in die Waldorfschule in Oakland und setzt sich sehr für die Waldorf- pädagogik ein. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Tochter eine andere Schule besuchen könnte«, schreibt sie in einer E-Mail. »Die Waldorfschule erzieht das ganze Kind und bringt ihm das Lernen bei. Ich möchte, dass meine Tochter eine reich ausgebildete Persönlichkeit wird, die sich in allen möglichen Lebenslagen zurecht findet.«

Ashley Robertson, Erzieherin und Informationsmanagerin in Poplar Bluff ist ebenfalls eine führende Unterstützerin der Waldorfpädagogik. Auch wenn sie täglich das iPad, den Laptop und das Smartphone nutzt, versteht sie, wie die Waldorfpädagogik funktioniert: »Die Schüler langweilen sich in einem Unterricht, in dem sie sich nicht bewegen dürfen. Sie lernen am besten durch Bewegung. Sie fördert die Erinnerung, weil sie persönlich ist.« Und: »Ich glaube, Technologie ist wichtig, aber diese Schüler erweitern ihr Bewusstsein durch ihre eigene Kreativität. Ich würde gerne an einer solchen Schule unterrichten. Ich würde jeden Tag etwas Neues tun und meine Arbeit würde nie langweilig. Das ist in herkömmlichen Klassenzimmern nicht immer der Fall.«

Ein weltweit bekannter Vorsitzender einer Technologiefirma, der ungenannt bleiben muss, schreibt: »Mein eigener Erfolg, meine Kreativität und Widerstandskraft verdanke ich einer gesunden Kindheit, zu der der Besuch einer Waldorfschule Entscheidendes beigetragen hat. Die Waldorfpädagogik begegnet den sich entfaltenden Fähigkeiten der Kinder durch einen Lehrplan, der den Lehrer an die Kinder bindet und das Interesse der Kinder an der Welt lebendig erhält. Das war für mich so und ist noch heute in Waldorfschulen so.

Kein von Menschen gemachtes technologisches Werkzeug kann dasselbe ausrichten, wie das Interesse eines Lehrers und das Vertrauen des Kindes. All die Hilfsmittel, Computer und Maschinen, die ich heute benutze, vermag ich richtig einzusetzen, weil ich sie zum richtigen Zeitpunkt in meinem Leben kennenlernen konnte. Es ist gut, dass man jetzt über diese Fragen diskutiert. Alle Kinder sollten sich so besonders fühlen, wie ich mich in der Waldorfschule gefühlt habe.«

EZ | Gerade hat Apple mit einer neuen Software eine Initiative gestartet, Lehrbücher durch iPads zu ersetzen. Was halten Sie davon?

DM | Wie der Google-Geschäftsführer Alan Eagle, dessen Tochter die Waldorfschule in Los Altos, Kalifornien, besucht, der »Times« gesagt hat: »Die Vorstellung, irgendeine App auf dem iPad könnte meinen Kindern das Lesen oder Rechnen besser beibringen, als ein menschlicher Lehrer, ist lächerlich.«

Stephanie Brown, die ein Suchtherapiezentrum in Menlo Park leitet, erlebt zunehmend Kinder, die bereits mit zehn Jahren mediensüchtig sind, und betrachtet diese Entwicklung mit Sorge. Die Symptome entsprechen solchen von anderen Suchtkrankheiten: Zwanghaftigkeit, unstillbares Verlangen, Reizbarkeit, Schlafstörungen. »Diese Kinder richten ihren Tag ganz auf die Beschäftigung mit Technologie aus, sie brauchen immer mehr und können nicht mehr damit aufhören.« Kürzlich sprach sie mit einer Gruppe von Achtklässlern, für die die Vorstellung, sie könnten süchtig sein, offenbar neu war. Sie fragte, ob sie schon einmal ein starkes Verlangen verspürt hätten und »alle Hände gingen nach oben. So fragte ich nach Beispielen«, erinnert sie sich. »Sie nannten Schokolade, Doritos, Cola und als jemand ›Videospiele‹ sagte, gab es ein großes Gelächter. Andere Kinder sind einfach zu jung, um zu bemerken, wie sie aufgesogen werden. Ein Zweitklässler erzählte mir, er wolle einen iPad. Als ich ihn fragte warum, sagte er, das wisse er nicht.«

Manche Erziehungswissenschaftler kritisieren den Drang, Klassenzimmer mit Computern auszustatten, als unbegründet, weil es keine Studien gebe, die deutlich zeigten, dass sie zu besseren Testergebnissen oder anderen messbaren Vorteilen führten.

Paul Thomas, ein ehemaliger Lehrer und Assistenzprofessor für Pädagogik an der Furman Universität, der zwölf Bücher über das staatliche Schulwesen geschrieben hat, stimmt dem zu. Er sagt: »Ein zurückhaltender Umgang mit Technologie im Klassenzimmer ist immer gut für das Lernen. Lernen ist eine menschliche Erfahrung, Technologie eine Ablenkung, wenn es um Lesen, Rechnen und kritisches Denken geht.«

Kürzlich besuchte eine Journalistin ein Klassenzimmer, in dem jeder Schüler ein iPad erhalten hatte. Sie saß im Hintergrund und beobachtete die hinteren Reihen, während der Lehrer unterrichtete und die Kinder der Mittelstufe sich mit ihren iPads beschäftigten, angeblich, um sich Notizen zu den Ausführungen des Lehrers zu machen. In der Mitte der Stunde ging sie durch die Reihen, um zu sehen, womit die Schüler sich beschäftigten. Sie stellte fest, dass die drei hinteren Reihen sich bei facebook, youtube und in Chatrooms tummelten. Zwei Schüler hatten Kopfhörer auf und sahen Kinofilme an.

EZ | Wie sollten wir mit Technologie umgehen und sie im Unterricht aufgreifen?

DM | Waldorfschulen müssen Teil der modernen Welt sein und ihren Schülern einen Unterricht bieten, der ihr Verlangen, zu dieser Welt zu gehören, aufgreift. Dieser Unterricht muss aus einem tiefen Verständnis des Lehrplans und des sich entwickelnden Menschen hervorgehen.

Die Frage ist: Was ist eine angemessene Computererziehung? Da die Waldorflehrer die Entwicklung der Kinder beobachten und sie ihrem Alter entsprechend unterrichten, bieten sie eine klassische, bilderreiche Erziehung, fördern die Liebe zum Lernen und schulen ihre Urteilsfähigkeit. Unterricht am Computer ist in Jahren der Unterstufe nicht förderlich. Die anthropologischen Voraussetzungen, um Computertechnologie angemessen zu verstehen, sind erst in der Oberstufe gegeben. Die ersten Schritte schließen Textverarbeitung, Umgang mit der Tastatur, cartesische Geometrie und euklidische Beweisführung ein. Ein alter Computer wird auseinandergenommen und untersucht. Lochrasterplatten und Stromkreise werden studiert und einfache Programme geschrieben. Gleichzeitig lernen die Schüler Boolesche Algebra, Logik und Kodierung.

Der Unterricht in den Wissenschaften schließt Robotik, den Gebrauch von Mikroskopen in der Biologie und die Herstellung komplexer Datenbanken in der Ökonomie ein. Der Computer ist ein Werkzeug. Jede Waldorfschule auf der Welt geht ihren eigenen Weg, abhängig von den Ressourcen und den Fähigkeiten der Lehrer.

In Nordamerika entwickelt jede Waldorfoberstufe ihren eigenen Computerlehrplan, der von den Lehrern abhängt und den Fortbildungen, die die AWSNA organisiert. Manchmal bleiben wir hinter den angestrebten Zielen zurück. Das Forschungsinstitut der amerikanischen Waldorfschulen wurde gebeten, sich dieses Problems anzunehmen und eine dem jeweiligen Lebensalter entsprechende Reihe von Kursen zu entwickeln, auf die die Schulen zurückgreifen können. Jeden­falls hat ein Komitee, das aus Harvard- und MIT-Mitgliedern zusammengesetzt war, den amerikanischen Computer-Waldorflehrplan sehr gelobt. Aber wir sind gegenwärtig dabei, ihn zu überprüfen und anzupassen.

Joseph Weitzenbaum, der Technologiepionier vom MIT meinte, Computertechnologie sollte in Mittelstufen überhaupt nicht gelehrt werden, es sei denn, an einer Waldorfschule, an der die Kinder angemessen vorbereitet werden, um sich dem Thema mit wirklich tiefgehendem Verständnis zu nähern.

Links: www.waldorfresearchinstitute.org.| www.whywaldorfworks.org.

Übersetzung und Fragen von Lorenzo Ravagli