Zeit und Lernen. Epochenunterricht – eine Recherche

Johannes Grebe-Ellis

Die Klage über das »45-Minuten-Hackwerk« des herkömmlichen Stundenplans nimmt inzwischen historische Ausmaße an. Sie wurde und wird überall dort laut, wo im Unterrichtsgeschehen mehr als nur oberflächliche Stoffvermittlung und als Ziel von Lernen nicht nur »Stoffbeherrschung«, sondern die Bildung des ganzen Menschen gesehen werden. »Dabei« – so formuliert schon 1968 der berühmte Erziehungswissenschaftler Martin Wagenschein – »gibt es den Ausweg des Epochenunterrichts. Einige Wochen lang bleibt die Gruppe möglichst täglich mindestens zwei Stunden lang bei demselben Fach und demselben Themenkreis. Erst dadurch wird die mächtige Hilfe der ›unterbewussten Arbeit‹ mobil gemacht.«

Dort, wo Epochenunterricht nicht nur als zeitliche, sondern auch als inhaltliche Gliederung von Lehr- und Lernprozessen praktiziert wird, kommen die Auswirkungen in vielfältigen Veränderungen und nachhaltigen Verbesserungen zum Tragen. Besonders hervorgehoben wird die Beruhigung und inhaltliche sowie soziale Intensivierung des Schulalltags, die sich aus der Entzerrung der Epochenfächer in mehrfacher Hinsicht ergeben. Dazu gehören: weniger Fächer pro Woche, effektiver Gewinn an Unterrichtszeit durch weniger »Umrüstzeiten« und Wiederholungen, intensivere Auseinandersetzung mit den Epochenfächern, zahlenmäßig weniger und dafür verbindlichere Sozialkontakte mit der Möglichkeit zu individuellerer Betreuung der Lernenden, mehr Möglichkeiten zu methodischer Vielfalt der Lehr- und Lernformen und ein besseres Schulklima. Neben solchen Auswirkungen wurde vor allem auch die Steigerung von Leistung, Interesse und Motivation der Lernenden belegt. Helmut Kamm hat in seinen Studien herausgefunden, dass der positive Einfluss auf die Lernleistungen mitbedingt ist durch »ein größeres Lerninteresse der Schüler […] Epochenunterricht kann eine Grundvoraussetzung jeglichen effektiven Lernens stärken: die Lernmotivation.«

Der von Kritikern am häufigsten vorgebrachte Einwand ist, dass während der Epochenpause alles vergessen werde. Doch aus der Lernpsychologie wissen wir, dass in Lernpausen der »Verarbeitungsprozess« nicht zum Stillstand kommt, sondern dass das Gelernte in dieser Phase umgestaltet und verdichtet wird. Zum anderen werden gerade diskontinuierlich strukturierte bzw. »atmende« Unterrichtsformen von neueren neurobiologischen Erkenntnissen über die Bedeutung von Rhythmus, Vergessen und Schlaf für Lernprozesse gestützt.

Angesichts dieser Praxisbefunde zum Epochenunterricht überrascht zweierlei: Zum einen, weshalb er in Deutschland eine so verhältnismäßig geringe Verbreitung gefunden hat, während er in den USA einen regelrechten Boom erlebt: in North Carolina stieg die Anzahl der Schulen, an denen »block-scheduling« praktiziert wird, zwischen 1992 und 1997 von 2 auf 65 Prozent. Zum anderen erstaunt die Tatsache, dass es in Deutschland zum Epochenunterricht bisher kaum wissenschaftlich fundierte Darstellungen gibt, außer der erwähnten von Helmut Kamm.

Die Bedeutung des Schlafes für das Lernen

Die Bedeutung der »unterbewussten Arbeit« (Wagenschein) während Lernpausen für Lernprozesse ist hinlänglich bekannt. Einen Schritt weiter geht die waldorfpädagogische Epochenkonzeption. Aus der zentralen Rolle, die hier dem rhythmischen Wechsel zwischen Erarbeitungs- und Vergessensphasen bzw. zwischen Wachen und Schlafen für die Unterstützung von Lernprozessen und Gedächtnisbildung eingeräumt werden, ergeben sich Konsequenzen für die lernpsychologische Verknüpfung des Epochenunterrichts an aufeinanderfolgenden Tagen. Man könnte von einer regelrechten »Technik des Überschlafens von Gelerntem« sprechen. Bestätigt wird diese Konzeption nicht nur von der Praxis, sondern auch von der Schlafforschung. Welche Bedeutung verschiedenen Schlafphasen nicht nur für die Konsolidierung des Gedächtnisses, sondern insbesondere für die Fähigkeit des Problemlösens zukommt, ist in den letzten zehn Jahren in einer Reihe Aufsehen erregender Studien untersucht worden. So hält Jan Born fest, dass es »für die schulische Leistung« günstig wäre, »wenn man am späten Nachmittag oder Abend das vormittags Erlernte wiederholt, weil damit garantiert wird, dass es verstärkt in den Schlafprozess mit eingeht«. Born zeigt, dass im Schlaf nicht nur das Gedächtnis verstärkt wird, sondern die frisch ins Gedächtnis aufgenommenen Inhalte auch »verarbeitet« und umgestaltet werden. Es sollte demnach eine Rolle spielen, ob man die lernpsychologisch aufeinander aufbauenden Phasen eines Lernvorgangs wie üblich möglichst zusammenhängend unterrichtet, oder – vereinfacht gesagt – nach der Problematisierung und vor dem Erklärungsteil eine Unterbrechung einschaltet, die einen Nachtschlaf enthält. In den Kontext des Physikunterrichts übersetzt hieße das zum Beispiel, die lernpsychologische Komposition der Phasen Beobachtung im Experiment, Erinnerung und ordnende Beschreibung und zu Erkenntnis verdichtetes Verstehen nicht wie üblich mit der »Schulstunde« zusammen fallen zu lassen, sondern an die Eigengesetzlichkeit von Lernprozessen anzupassen. Zwischen der ordnenden Beschreibung und dem Schritt aus Erkenntnis müsste dann eine Nacht liegen. Lernpsychologisch ist die Doppelstunde mit der Doppelstunde vom Vortag und derjenigen vom Folgetag verknüpft.

Zum Autor: Prof. Dr. Johannes Grebe-Ellis, Jahrgang 1967, Waldorfschüler, Physiker, seit März 2008 Professur für Phänomenologie und Didaktik der Physik an der Leuphana Universität Lüneburg.

Literatur: J. Born: »Warum wir im Schlaf unsere Probleme lösen«, 2004. / Interview in: www.schlafkampagne.de/schlaf-magazin/schlaf-probleme-loesen-jan-born.php (23.9.2008, 9:20 Uhr)  / R. Canady & M. D. Rettig: Block scheduling. A Catalyst for Change in High Schools. Princeton, NJ, 1995 / H. Kamm: Epochenunterricht. Bad Heilbrunn 2000 / M. Wagenschein: Verstehen lehren. 9. Aufl., Weinheim 1991