Ganz offensichtlich gibt es in diesem Team einen Balance-Akt zwischen den zwei Gegensätzen Gemeinschaft: »Wir entscheiden alles gemeinsam und alle müssen sich daran halten!« und Autonomie: »Ich brauche Bereiche, in denen ich selbst entscheide, ohne erst alle fragen zu müssen!«
Diesen interpersonellen Grundkonflikt beschreibt die Psychologie als Zugehörigkeits-Selbstbestimmungs-Konflikt. Die Thematik ist in vielen selbstverwalteten Organisationen besonders ausgeprägt, in denen Aufgaben und Befugnisse nicht klar an Personen gebunden sind, sondern die Auffassung lebt: »Wir entscheiden und verantworten alle alles gemeinsam!« Das scheint eine auf Harmonie und Einstimmigkeit bedachte Vorgehensweise zu sein.
Hat diese Überzeugung langjährig die gesamte Organisationskultur geprägt, wie z.B. auch »Wir machen das schon immer so«, braucht es einen langen Atem, sie zu verändern, begleitet von der Gefahr zunehmender gegenseitiger Missverständnisse und Verletzungen. Die Beteiligten haben den Eindruck, doch nur in bester Absicht gehandelt zu haben und verstehen die verärgerten Reaktionen der anderen auf das eigene Handeln nicht. Damit ist der Boden für Konflikte bereitet.
Die Temperamente als Gesprächsqualitäten
Wie kann es gelingen, aus dieser Situation herauszukommen? Erinnern wir uns an die Lehre von den vier Temperamenten Galens, die fast 2000 Jahre lang zum Alphabet der abendländischen Anthropologie gehörte, bevor sie nahezu vollständig in Vergessenheit geriet. Der Sanguiniker hat mit seinen vielen guten Ideen und seiner guten Laune immer die Nase vorn. Ein Problem ist für ihn eher eine Herausforderung. Mit seinem Verhalten dominiert er so manches Gespräch. Oft kann man seinen Redeschwall kaum bremsen. Viele seiner Beiträge sind kreativ, manche sogar recht originell, weshalb man ihm seine lebendige Art nicht gleich übelnimmt. Im Melancholiker finden wir einen guten Zuhörer, der sich erst einmal im Hintergrund hält und den Gesprächsverlauf beobachtet. Zwar folgt er den Beiträgen und Gedanken seiner Gesprächsteilnehmer aufmerksam, beteiligt sich aber äußerlich nicht am Gespräch. Meldet er sich dann doch endlich zu Wort, ist er kritisch, äußert Vorbehalte, Bedenken und fordert seine Gesprächsteilnehmer auf, Kriterien zu entwickeln, um die andere Seite der Medaille erkennen zu können. Der Phlegmatiker greift ebenfalls in den Gesprächsprozess lange nicht ein. Doch wenn ihm alles zu schnell oder durcheinander geht, wird er sichtbar. Er kann das Durchpeitschen einer Entscheidung nicht ertragen. Zu oft hat er schon die Erfahrung gemacht, dass einem die Konsequenzen einer voreilig getroffenen Entscheidung irgendwann auf die Füße fallen. Alles braucht eine gründliche Zeit der Abwägung! Dieses lange Diskutieren, das ewige Vertagen und Hinauszögern von Entscheidungsprozessen ist für den Choleriker kaum auszuhalten. Häufig kommt er schon mit guten Vorschlägen in die Konferenz, möchte diese am liebsten zeitnah umgesetzt wissen, weil man sonst nur wertvolle Zeit vergeudet. Im Grunde liegt für ihn die Lösung (seine!) bereits nach wenigen Wortbeiträgen auf dem Tisch und es könnte auf viele Argumente verzichtet werden, wenn sich alle nun mal endlich entscheiden würden!
In jeder Gesprächsrunde kann man beim genaueren Zuhören die Qualitäten dieser vier Temperamente entdecken. Gelegentlich werden sie immer wieder von den gleichen Personen übernommen. Solange sie nur ihrer Rolle im Gespräch treu bleiben und wenig auf die anderen hören, drehen sich Gespräche während einer Konferenz im Kreis und es entsteht eine Dynamik, wie in dem anfangs erwähnten Hort-Team. Wenn wir aber die Temperamente einmal von der Identifikation mit einzelnen Personen lösen und in ihnen Teamqualitäten entdecken, die zur richtigen Zeit eingesetzt, das Gespräch voranbringen könnten, dann wird eine Gesprächs-Chronologie sichtbar.
Das Gespräch kann beginnen, nachdem Thema, Anliegen oder Fragestellung allen klar geworden und geklärt ist, wer die Entscheidung umzusetzen und zu verantworten hat. Nun sind noch der Zeitrahmen zur Lösungsfindung zu klären und wer die Gesprächsführung übernimmt.
Zunächst sind die Qualitäten des sanguinischen Elementes gefragt und alle Ideen, Aspekte, Vorschläge werden ohne Wenn und Aber gesammelt. Keine Idee wird bewertet, kein Vorschlag abgelehnt und sogar verrückte Beiträge sind willkommen. Methodisch ist es sinnvoll, die Ideen an einer Tafel oder einem Flipchart festzuhalten. So geht nichts verloren und einzelne Vorschläge müssen nicht wiederholt werden. Für eine solche Ideensammlung sollte etwa 30 bis 40 Prozent der gesamten Zeit zur Verfügung stehen. Man kann den Prozess auch unterbrechen, z. B. wenn der Ideenpool zunächst ausgeschöpft scheint. An die vorhandene Sammlung lässt sich später wieder anknüpfen, wenn weitere Vorschläge vorliegen. Im zweiten Schritt – mit einem Zeitfenster von etwa 15 bis 20 Prozent der gesamten Zeit – ist die Qualität des melancholischen Elementes gefragt. Welche Aspekte sind für eine gute Lösung am Ende unbedingt zu beachten? Gibt es einen bestimmten Kosten- oder Zeitrahmen, Unverträglichkeiten oder Notwendigkeiten, die berücksichtigt werden müssen oder einen bestimmten Personenkreis, auf den Rücksicht genommen werden muss, wie z. B. Raucher, Nichtraucher, Vegetarier oder Menschen mit Bewegungseinschränkungen? Diese Sammlung entsteht neben der ersten, so dass beide gegenübergestellt werden können, um sie im dritten Schritt mit den Qualitäten des phlegmatischen Elementes abzuwägen. Es gilt abzustimmen, welche Kriterien unbedingt beachtet werden müssen, welche sinnvollerweise zu integrieren und welche Vorschläge ganz auszuschließen wären. Das Motto könnte heißen: Die beste Lösung ist das Ergebnis unserer Gemeinschaftsleistung und nicht die eines Einzelnen! Für diesen Gesprächsblock werden 15 bis 20 Prozent der gesamten Zeit benötigt. Wenn die ersten drei Gesprächsblöcke gut geführt wurden, können neue Ideen und Vorschläge zu diesem Zeitpunkt nur noch dann eingebracht werden, wenn sie nicht die Aspekte des zweiten und dritten Gesprächsblocks wieder in Frage stellen. Gelegentlich wird erst jetzt eine Idee geboren, die idealtypisch genau den Aspekten des zweiten und dritten Gesprächsblocks gerecht wird. Im vierten Block schlägt nun die Stunde des cholerischen Elementes. Es wird Zeit für eine Entscheidung! Alles ist gesagt und von allen Seiten abgewogen. Dafür wird nochmals ca. 15 bis 20 Prozent der gesamten Zeit benötigt. Liegt die Lösung auf dem Tisch, muss sie noch einmal für alle Anwesenden und das Protokoll verständlich formuliert und festgehalten werden, wann noch einmal auf die verabredete Umsetzung geschaut wird. Soweit der Ablauf eines gelingenden Entscheidungsfindungsprozesses. » Gemeinwohl geht über dein Wohl « steht über dem mittelalterlichen Torbogen des Donatsturms im erzgebirgischen Freiberg. Berechtigterweise haben Menschen im 21. Jahrhundert aber auch ein Bedürfnis nach einer gewissen Autonomie, wie es sich im Hort-Team ausdrückt. Jede Person möchte sich mit ihren Fähigkeiten und Talenten in eine Gemeinschaft einbringen und benötigt einen Freiraum zum selbstbestimmten Handeln. Nicht jedes Handeln muss dann mit allen abgesprochen werden. Wenn jede Person in diesem Rahmen immer die Interessen der Gesamtorganisation beachtet und alle in einem guten Austausch stehen, ist die Balance zwischen Gemeinschaft und Autonomie gewährleistet. Das befreit auch von der Not, in Entscheidungsprozessen es immer allen recht machen zu müssen.
Zum Autor: Edzard F. Keibel berät und begleitet seit 20 Jahren Waldorfschulen, Waldorfkindergärten, sozialtherapeutische Einrichtungen und andere soziale Organisationen.