Hase oder Igel: so oder so verrückt. Ein Inklusionsmärchen

Martin Cuno

In einem Leserbrief beantwortet Henning Köhler meinen Artikel »Inklusion - anthroposophisch gedacht«. Sein Dank sei ebenso herzlich erwidert. Seine Zerschneidung meines Textes in zwei unvermittelt nebeneinanderstehende Themenstränge (die Subjektproblematik, von ihm hochengagiert aufgenommen; die Inklusionsdebatte, eher marginal beantwortet) gibt mir die Möglichkeit, mich in der Wiederzusammenfügung weiter zu verdeutlichen. Als hätten wir uns abgesprochen, landet Köhler in seinen Schlussbemerkungen einen Volltreffer, indem er auf das Bild hinweist, das den gemeinsamen Kern beider Themen, die eins sind, beleuchtet: Das Märchen vom Hasen und Igel. Es ist das Inklusionsmärchen schlechthin und gleichzeitig das Märchen vom Übergang von der 4. zur 5. »nachatlantischen Kulturepoche«. Traumwandlerisch spricht die Inklusionsbewegung vom »Paradigmenwechsel« …

Diese Epochen auseinanderzuhalten, das heute hinderlich »Nachklappende« (Steiner) der vergangenen Epoche zu identifizieren und den Kerngehalt der neuen Epoche sehen zu lernen, mag uns wesentlicher sein als Diskussionen über Moderne und Postmoderne. Wem ein »Menschenbild«, wie anfänglich auch immer, sicht- und greifbar geworden ist, das zur jetzigen Epoche »passt«, der könnte wohl sagen: »Ich bin schon da.« Und Analog zum Igel, der dem Hasen diesen völlig neuen Ansatz des Schondaseins vorlebt, gibt es durchaus heute die von Köhler in eine ferne Zukunft projizierten »Gemeinschaften, die sich keinesfalls als karitative Stätten verstehen«: anthroposophische Gemeinschaften, die aus der Kraft der gegenwärtigen Zukunft leben (siehe den zitierten »Engel im Astralleib«), und aus dem fundierten Wissen um die Normalität von Behinderung, mit dem Steiner den Heilpädagogischen Kurs eröffnete. Den Arroganzvorwurf (Köhlers unterstelltes »Ätsch, wir sind schon längst da!«) führen wir sogleich ad absurdum, indem wir aufs Märchen hinweisen: Dies »Ätsch« steht ebenso wenig im Text wie das »längst«; charakterliche Überheblichkeit ist dem Igel ebenso fremd wie die wahnwitzige Hasenidee des Vergleichens und Messens. Der Igel, der denkbar freundlichste Zeitgenosse (außer zu seiner Frau, die er selbst ist) konnte dem Hasen tragischerweise nichts Gutes tun – außer ihn endlich von diesem Wahn zu erlösen.

Mein Anliegen in der Inklusionsdebatte (formuliert im genannten und einem weiteren Artikel, auf den ich wegen des hier begrenzten Platzes zur weiteren Erläuterung hinweise: Die Reise zum Mittelpunkt der Inklusion, Die Drei 7/2011) ist: die Klärung der gemeinsamen Basis zwischen Anthroposophie und (in notwendiger Vereinfachung gesagt) ihrer Umwelt für den gemeinsamen Wettlauf »zur Inklusion«. Wie gesagt, wir haben diesen Wettlauf nicht erfunden. Auch die Urheber der UN-Konvention haben ihn, zumindest in der hierzulande proklamierten Form, nicht erfunden. Hierzu muss ich ein zweites Mal verweisen: auf die Stellungnahme des Kollegiums der Johanna-Ruß-Schule, einer Heilpädagogischen Waldorfschule, an der ich arbeite.

Mit »gemeinsamer Basis« meine ich eine eventuelle Schnittmenge im Menschenbild. Henning Köhler spitzt es treffend zu, indem er an meiner Verneinung des »autonomen Subjekts« Anstoß nimmt. Richtig gehört, ich verneine dies und damit die besagte Basis. Damit würden wir uns ins Abseits stellen, höre ich. Uns ein-igeln! Desto besser, sage ich. Der Igel realisiert geradezu die paradoxe Erkenntnis der Systemtheorie, dass Offenheit und Geschlossenheit kein Widerspruch ist, sondern im Gegenteil: ein System ist desto offener nach außen, je besser es sich von der Umwelt abschließt. In diesem Sinne halte ich die Inklusionsdebatte für eine erstklassige Möglichkeit, unser eigenes menschenkundliches und sozialgestalterisches Profil zu schärfen.

»Subjekt« … Ich will Köhlers erste, rhetorische Frage beantworten, wessen Anmaßung denn die »Subjekt-Anmaßung« sein könne? Köhler erwartet die Antwort: Anmaßung des Subjekts selbst  – womit die »Erfahrung einer unhintergehbaren Realität« erwiesen sei.

Meine Antwort dagegen: Gott, der die Welt ist (Philosophie der Freiheit), ist Urheber der Subjekt-Illusion; »ich selbst« aber, dem es nicht gelingt, die Welt zu sein, bin unschuldig, unfähig zur Schuld, das Produzieren der Schuld übernimmt Gott; das Subjekt lebt, wie es im selben Buch heißt, von »des Denkens Gnaden«; und unter »Erfahrung einer unhintergehbaren Realität« kann ich mir nach dem, was ich von Anthroposophie gelernt habe, ausschließlich ein sogenanntes Urphänomen vorstellen. Liebe Leserin und lieber Leser, empfinden Sie sich als ein Urphänomen? Ich selbst möchte auf diese, nun ja, Anmaßung lieber verzichten. Ich drücke das von mir bisweilen gespürte oder sogar ein bisschen »angeschaute« diesbezügliche Urphänomen lieber aus mit: »Ich ist!« oder »Es gibt Ich« – unbeschadet dessen, dass die Sprache mit ihrem »Ich bin« nebst allen sonstigen von Gott ermöglichten Illusionen im Alltag höchst nützlich ist, unter anderem für mein Erzogenwerden durch die Welt.

Ein Urphänomen: eine Sinneswahrnehmung, die sich selbst erklärt! Und davon ausgehend anderes erklärt, z.B. »mich«. Hätte der Hase dies fassen können, es wäre ihm anders ergangen. Machen wir uns klar: der Hase ist ja, trotz der behindertenfeindlichen Provokation des Igels (wegen der krummen Beine) kein Misanthrop der Sorte, die sich auf der Café-Terrasse beim Wirt beschwert, wenn eine Behindertengruppe nebenan Platz nimmt. Er hätte sich an diesem Sonntagmorgen nach des Igels freundlicher Begrüßung abwenden und weitergehen können. Seine Stichelei ist eine Variante des Ur-Verhältnisses von Herr und Knecht. Und was in ihm so hartnäckig Herr bleiben will durch alle 74 Ackerfurchen des Wettlaufs, ist die Ratio der 4. nachatlantischen Kulturepoche, die einen logischen Widerspruch nicht dulden kann. Es kann nicht sein, dass der Igel »schon da ist«.  Es ist aber so. Den Sieg trägt nicht die Ratio, sondern die Sinneswahrnehmung der 5. Epoche davon: »ich bin da«. Dieses widerlogische Faktum, diese Verrücktheit konnte der Hase sich nicht zumuten. Um die »Unergründlichkeit« des Phänomens akzeptieren zu können, hätte er seine eigene Unergründlichkeit wahrnehmen müssen. Das konnte er nicht, er projizierte Unergründlichkeit stets wie Köhler ins »andere Subjekt«, ins »Du«, auf das er gerne am Ende der Ackerfurche gewartet hätte. Stattdessen wartete etwas auf ihn und nannte sich »Ich«. Der Hase hatte nur das bürgerliche, römisch-rechtliche Selbstbild gelernt: wissen, wer man ist und was einem zusteht. Die »unhintergehbare Realität« mochte er nicht als Urphänomen empfangen, sondern wie Köhler und Münchhausen kurzerhand selbst sein. An diesem Sonntag aber wurde er von der verrückten Realität des Igels massiv hintergangen. Es blieb ihm nur die andere Verrücktheit: sich widersinnig totzulaufen.

Dem Igel aber hat gerade seine Behinderung, die kurzen Beine, die jeden Weg zu einem »langen langen Weg« (Köhler) machen, zu seiner Identitätsfindung verholfen. Er weiß und zeigt sich als Doppelwesen, welches »schon da ist«. Er weiß dies als das Geheimnis des Igelseins schlechthin, ja als das Geheimnis jeden Wesens: empfiehlt er doch im Fazit des Märchens jedem Wesen, unbedingt eine Frau zu heiraten, »de jüst so uutsüht as he sülwst«. Sein so phantastisch gesundes Selbstbewusstsein bezieht der Igel nicht davon, dass von außen die Heterogenität der Wesen »gewertschätzt« würde. Die scheint für ihn kein großes Problem, wie man an der Offenherzigkeit gegenüber dem Hasen sieht, der ihn vermutlich nicht das erste Mal so beleidigt. Der Igel hat es längst aufgegeben, darauf zu warten, dass der »dumme« Hase einsieht, dass man auch mit krummen Beinen glücklich sein kann, sofern genug Steckrüben in der Nähe wachsen. Quell seiner Seelenfülle ist die Gleichzeitigkeit von Heterogenität und Homogenität, auch von Behinderung und Nichtbehinderung, die er als »sich selbst« erfährt. Und sein Problem ist eher der schwierige Umgang mit sich selbst: seiner Frau.

Wenn »der Igel« (»der Mensch«; von beiden spricht man gern im Singular) ein Gegenstand ist, dann einer, »neben dem es keine anderen gibt« (vgl. meine »Reise zum Mittelpunkt …«), der überall »da ist«. Wenn es also mehrere Menschen (und nicht nur jene Tiere mit besonderen Eigenschaften, mit denen sich der Humanismus befasst) geben sollte, müsste das darauf beruhen, dass einer sich in die andern verwandelt. Henning Köhler sollte noch einmal überlegen, ob dies unter »pseudo-buddhistische Ich-Leugnungskampagne« fallen kann oder doch eher mit unserer Religion zu tun hat und ihr Sinn gibt.

Dies war es, was ich in jenen vier entscheidenden Sätzen der Philosophie der Freiheit fand: Die Verwandlung des Einen in den Andern. Es ist doch klar, dass diese hochgradige Verrücktheit (für die irgendwie auch Köhler plädiert, wenn er das Zugleich des Entweder-Oder empfiehlt) erst in der Neuauflage stehen konnte: sie hat nun wirklich nichts mehr mit Philosophie, Welterklärung zu tun; sie ist Anthroposophie, Geschehen, Ereignis.

Man vergegenwärtige sich ernsthaft den von mir ausgearbeiteten Zusammenhang: Die Verwandlung ist die ausschließliche Möglichkeit dafür, dass es eine gemeinsame geistige Welt gibt. Und diese Welt – nicht etwa die »Lebenswelt« zuzüglich der »Diskurse« sowie ihrer »Werte« und »Normen« – ist die Garantie für das Zusammenleben der Individuen (Inklusion). Wer Steiner mit Habermas verwechselt, braucht sich über eine sich totlaufende, an den Individuen vorbei »umgesetzte« Inklusion nicht zu wundern.

Wer die Verrücktheit dieser Verwandlung nicht akzeptieren kann, muss – dazu zwingt ihn sein Engel im Astralleib – eine andere Verrücktheit in Anspruch nehmen: die Extrapolation der Einigkeit der Individuen, sei es in eine »ferne Zukunft« oder in irgendein Jenseitiges. Ohne zumindest ein Bild von dieser Einigkeit können wir nicht auskommen. Das Subjekt ahnt, dass es – über seine beklagenswerte »Einsamkeit« hinaus – von irgendwelchen »Gnaden« her lebt.

Welche Konsequenz zieht die Anthroposophie aus der »einigen Ideenwelt«? Die soziale Dreigliederung. Weil die »Intuitionen«, die die verwandelten Individuen aus dieser Welt schöpfen, so verschieden sein können, muss ein freies Geistesleben garantiert sein: damit die verschiedenen Intuitionen sich heute ausleben können, statt dass Demagogen ein angebliches Wissen vom Zustand am Ende des »langen, langen Weges« vorgaukeln. Weil die »Menschen« aber trotzdem »gleich« sind, gibt’s zur Auflösung dieser Paradoxie ein Rechtsleben.

Und das Wirtschaftsleben? Psst! Der Igel verzichtet nach der Beleidigung durch den Hasen auf den Rechtsweg. Erstens glaubt er nicht daran, gegen die rein verbale Diskriminierung (eine Beleidigung, an der ja sachlich auch gar nichts auszusetzen ist, denn die Igelbeine sind krumm) juristisch erfolgreich und sinnvoll vorgehen zu können. Und zweitens: er hat Sorge, dass ein Richter bei dieser Gelegenheit die Eigentumsverhältnisse an den Steckrüben thematisieren würde, die der Igel als die seinigen betrachtet, einfach weil er jeden Tag mit seiner Familie davon isst. Schließlich wachsen sie am nächsten zu seinem Haus. Als verantwortungsvoller Familienvater ist er klug genug, bezüglich dieses Wirtschaftslebens keine schlafenden Hunde zu wecken.

Jedenfalls: an diesem Sonntag auf der Buxtehuder Heide entschließt er sich, im Geistesleben ein nachhaltig wirkendes Exempel zu statuieren. Möge es auch für uns nicht umsonst gewesen sein!

*

Hier noch der Vorspann des Märchens (noch schöner klingt es im originalen Plattdeutsch): »Diese Geschichte ist eigentlich gelogen, Kinder, aber wahr ist sie doch, denn mein Großvater, von dem ich sie habe, pflegte immer, wenn er sie erzählte, zu sagen: Wahr muss sie sein, mein Sohn, sonst könnte man sie ja nicht erzählen.«