Neue Wege bei Disziplinproblemen?

Tim Riedel

Ein Elternabend der 9. Klasse. Lehrer und Eltern diskutieren darüber, ob die Disziplin­probleme in der Klasse dadurch behoben werden könnten, dass störende Schüler den Klassenraum verlassen müssen. Eine Mutter regt an, dass man doch auch die Gruppendynamik in der Klasse stärker einbeziehen solle. Die Schüler würden doch meist deshalb stören, weil es sich aus der Klassensituation heraus ergebe und weil eben jeder bestimmte Rollen innehabe. Der Lehrer nimmt diesen Impuls auf und verspricht, dies auch einmal mit den Schülern zu thematisieren.

Als systemischer Trainer und Berater kenne ich die Waldorfpädagogik nur aus meiner Rolle als Vater an unserer Schule. Dabei nehme ich viele Parallelen zu meiner Arbeit wahr: der Fokus auf die Individualität der Schüler sowie die besondere Bedeutung der Schüler-Lehrer-Beziehung. Gleichzeitig die bewusste Gestaltung der Gruppe und des räumlichen Kontextes, also des Systems. Beiden Ansätzen gemein ist nach meinem Verständnis, dass einfache und lineare Reiz-Reaktionsschemata (Fehlverhalten = Bestrafung, gutes Verhalten = Belohnung) nicht als nachhaltig gesehen werden, um die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit im Sinne einer »Erziehung zur Freiheit« zu unterstützen. Gehen wir also davon aus, dass der systemische und der waldorfpädagogische Ansatz einige Parallelen aufweisen. Dann erscheint es sinnvoll, die systemischen Interventionsmöglichkeiten einmal genauer anzusehen, um Anregungen zu gewinnen für den Umgang mit mangelnder Disziplin, Störern und Konflikten in der Klasse.

Ansätze des Verstehens

Die systemische Betrachtung eines Problems geht davon aus, dass jedem Verhalten, auch dem destruktivsten, eine in sich stimmige Logik, ein Sinn zugeschrieben wird. Die störenden Schülerinnen und Schüler wissen ja in der Regel, dass ihr Verhalten nicht erwünscht ist. Sie haben also einen – meist ihnen selbst auch nicht bekannten – Grund, sich trotzdem regelverletzend zu verhalten. Eine Antwort auf  störendes Verhalten oder auf einen Konflikt wäre in dem Sinne zum Beispiel: »Danke, liebe Schülerin, dass Du störst. Dadurch kann ich sehen, dass etwas nicht stimmt. Es ist mir ein willkommenes Signal. Lass uns nun gemeinsam herausfinden, was denn nicht stimmt, und wie wir gemeinsam daran arbeiten können, dass das besser wird.«

Damit anerkennen wir störendes Verhalten als eine Chance, eine Ressource. Das Verhalten ist dann nicht mehr etwas, was wir um jeden Preis abstellen müssen, sondern wir nehmen es als einen Hinweis darauf, nach den tieferen Ursachen zu suchen. Warum macht es für mein Gegenüber, und auch für mich selber Sinn, dass wir uns so (destruktiv) verhalten, wie wir es manchmal tun? Und sobald wir uns gemeinsam auf den Weg machen, diesen Sinn zu verstehen, beginnen wir bereits, die Logik und die Kräfte dieses System zu verändern. Denn dann rückt die Möglichkeit stärker ins Bewusstsein, dass wir uns ja auch ganz anders verhalten könnten. Dabei stehen uns in der Systemik verschiedene Interventionsformen zur Verfügung, um Verhaltensmuster zu durchbrechen, die wir als dysfunktional und unangenehm erleben.

Zirkularität

Aus systemischer Perspektive wird Verhalten zirkulär erzeugt und verstärkt. Die Akteure im System verhalten sich auf eine bestimmte Art, weil sich entsprechende Verhaltensmuster etabliert haben. Und weil sich alle an diese Muster halten, wird das System weiter stabilisiert, und alle tun es erst recht. Dieses Gleichgewicht hat nichts mit Gleichheit zu tun, und es fühlt sich auch oft nicht gut an. Es beschreibt alleine die Tatsache, dass alle Akteure in ihrem Verhalten in diesem Moment einen Sinn sehen, und ihnen im Zusammenspiel aller Kräfte und Akteure jetzt gerade kein anderes Verhalten naheliegend erscheint. Ein regelmäßig brüllender Lehrer hält sein Verhalten für sinnvoll, um die Klasse zur Ruhe zu bringen. Er fühlt sich darin aber meist nicht wohl, und er erreicht sein Ziel auch nur selten.

Diesen Kreislauf können wir nur unterbrechen, indem wir unsere Position verändern, ein neues Verhalten ausprobieren, und damit das System in Bewegung bringen. Dabei hilft es, wenn wir uns selbst oder andere Akteure des Systems (z.B. die Schüler) bewusst nach anderen Perspektiven auf unser gemeinsames Verhalten befragen: »Was denkst Du, wie findet denn Paul Deine Reaktion? Wie geht es Lea, wenn Du das sagst?« Ähnliche »systemöffnende Fragen« sind die nach Ausnahmen: »Wann war unsere Konzentration das letzte Mal höher, und was war da anders als gestern?« – »Beim letzten Ausflug war die Stimmung richtig gut! Können wir das in den Klassenraum übertragen?« Auch Fragen nach Skalierungen können hilfreich sein: »Wann ist es spannender: Wenn ich rede oder wenn ihr untereinander Referate haltet?« Oder auch hypothetische Fragen, wie zum Beispiel: »Angenommen, Ihr könntet euren Stundenplan selbst bestimmen, wie sähe er aus?«

Wichtig ist es, sich als Lehrer und Schüler gemeinsam deutlich zu machen, dass wir uns alle in unserem System nicht so verhalten müssen, wie wir es tun. Wir entscheiden uns unbewusst immer wieder neu dafür, weil wir uns daran gewöhnt haben, und weil alle anderen sich auch immer wieder so verhalten. Wir fixieren uns gegenseitig, indem wir immer wieder das Gleiche tun und auf die gleiche Art und Weise auf das Verhalten der anderen reagieren. Entsprechend können wir aber auch gemeinsam umlernen und unser Zusammenspiel anders gestalten.

Beziehung

Ganz entscheidend für den Erfolg dieser Vorgehensweise ist die Qualität der Beziehung zwischen den Akteuren. »Wachstum durch Begegnung« hat es die Psychotherapeutin Virginia Satir einmal genannt. Dadurch, dass ich in der Verbindung zu dir daran glaube, dass wir dieses Problem lösen und unser Verhalten gemeinsam ändern können, werden wir es auch lösen können. Wichtig ist, dass wir uns in der Beziehung authentisch aufeinander einlassen. Und wir müssen bereit sein, uns auch unsere eigenen unbewussten Motive und manchmal auch Ängste einzugestehen. Nicht alles davon müssen oder sollten wir vor den Schülern tun. Aber es ist trotzdem ein Weg, der auch viel Mut und Ehrlichkeit gegenüber sich selbst erfordert.

Neugier

Genauso wichtig für diesen Weg ist eine Haltung des Suchens und des Nichtwissens. Systemisch gesehen ist es entscheidend, sich vor vorschnellen Bewertungen in Acht zu nehmen. Stattdessen ist Neugier auf die Schüler angesagt, Neugier in ihre Beweggründe, in die Kräfte, die in ihrem Zusammenspiel in der Gruppe wirken. An die Stelle einer sanktionierenden Haltung kann eine wertschätzende treten, eine dialogische Atmosphäre, die offen für neue Formen des Zusammenlernens ist.

Ressourcen

Wenn ich davon ausgehe, dass jedes Verhalten, auch wenn es noch so zerstörerisch rüberkommt, eine innere Logik hat, dann kann ich mit einer anderen inneren Haltung darauf reagieren. Es gilt das Motto: Kritik ist der Wunsch nach Nähe. Auch der Tritt vors Schienbein, selbst wenn er schmerzhaft ist und ich ihn mir nicht gefallen lassen muss, ist ein paradox ausgedrückter Kontaktwunsch. Entsprechend können wir mit den störenden Schülern, unseren Dialog neu »rahmen«, und an unseren Ressourcen ansetzen, anstatt an der zerstörerischen Kraft des »Problems«: Störende Schüler verfügen über viel Energie, die sie irgendwo investieren wollen. Sie zeigen in Nebengesprächen Interesse an Themen außerhalb des Unterrichts. Sie haben Mut, auf einen langweiligen Unterricht hinzuweisen. Und zeigten sie nicht auch Lebensfreude und Begeisterungsfähigkeit beim letzten Ausflug oder auf der Monatsfeier? Wenn wir mit dieser Anerkennung an sie herantreten, werden sie auch eher bereit sein, darauf zu schauen, was sie denn selber tun können und wollen, um das Miteinander im Unterricht wieder zu verbessern.

Verstörung

Nicht zuletzt ist jedem System immanent, dass wir es nicht individuell verändern können. Wir können nur uns verändern und neue Impulse setzen, und dann abwarten, wie sich dies auf das System auswirkt. Für Pädagogen heißt das, dass es zunächst gar nicht so wichtig ist, was wir genau anders machen, um zum Beispiel Disziplinprobleme in den Griff zu bekommen. Wir sollten nur überhaupt einmal etwas anderes ausprobieren. Das kann bei einer neuen Sitzordnung oder bei einem Ausflug anfangen, und es hört bei einer Klassenkonferenz oder einer komplett neuen Methodik oder Themenwahl noch lange nicht auf. Wir können auch im Bärenkostüm in die Klasse kommen oder uns in die letzte Reihe anstatt an den Lehrertisch setzen und abwarten, was passiert. Es wird das System irritieren und dadurch Gelegenheiten schaffen, etwas Neues daraus zu machen und neue Muster zu etablieren.

Zum Autor: Tim Riedel ist Vater von vier Kindern an der Waldorfschule Berlin Prenzlauer Berg und arbeitet als systemischer Trainer und Coach. 2017 moderierte er die Bundeselternratstagung (BERT) in Überlingen. Kontakt: tim.riedel@interpool-hr.com