Psychotherapie oder Deutsch?

anonymus

Meiner Erfahrung nach ist es im Schulbereich immer möglich, Jugendlichen Literatur als Beispiel von hoher seelischer Ausdrucksqualität und Kultur vorzustellen. Die mediale Tendenz zur Verkürzung der Sprache, die schnellere Nachrichtenverbreitung, aber auch die aktuelle gesellschaftliche Polarisierung durch manipulierte Sprache entmutigen Schüler bei ihren Fragen zur Ästhetik und verhindern oft Möglichkeiten der Vertiefung eines persönlichen Repertoires an Ausdrucksmitteln. Wenn das Kultusministerium eine Ganzschrift in die Prüfung Deutsch aufnimmt, könnte man dies als die Reaktion auf diese Veränderungen verstehen.

An Waldorfschulen sollten Schüler ihren Namen selbstverständlich auch schreiben können und sich mehr an persönlichem Ausdruck mit Sprache versuchen dürfen. Das gelingt. Ich erinnere mich an das Zeugnis einer Waldorfschülerin, die als Praktikantin an unsere Schule wollte: »Fach Deutsch: M. schreibt, was sie will. Note: sehr gut.«

Ob es Erörterungen oder Nacherzählungen sind, lyrische Gesetzmäßigkeiten oder moderne Prosa, Goethe oder Herta Müller, es lebt der Deutschunterricht immer von der Begeisterung und der Intuition der Lehrer. Klassisches Vorbild ist der Lehrer Friedrich Abel, der den Schüler Friedrich Schiller und andere im Zwangskontext des herzoglichen Eliteinternates in Stuttgart für Literatur begeisterte, dabei die Kunst und Psychologie Shakespeares einsetzte, um die seelische Not der Jungen in produktive und gesundende Entwicklung zu wenden, mit dem bekannten Ergebnis.

Ich weise hier auf den Pflichtleseteil der veränderten Deutschprüfung in Baden-Württemberg hin. Er möchte die zuständigen Fachplaner zu noch mehr Sensibilität bei der Themenauswahl aufrufen. Er wünscht dem Prüfling generell mehr Auswahlmöglichkeit bei den Texten. Dazu sei aus dem Bildungsplan 2016 zitiert:

»Als Leitlinien gelten für den Bildungsplan 2016 ausdrücklich die Grundsätze des Beutelsbacher Konsenses (vgl. Wehling, 1977, S. 179 f.):

»1. Überwältigungsverbot. Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der ›Gewinnung eines selbständigen Urteils‹ zu hindern.«

Für labile Schüler ist die Pflichtlektüre der Deutschprüfung in Baden-Württemberg eine seelische Herausforderung. Muss das so sein?

Es soll hier um das Schulfach Deutsch gehen, dessen Abschlussprüfungslektüre.

Aber zuerst: Schreiben wir mal über A.

A. hat Probleme. Okay, er ist 14. Da wären also: sein Körper, seine Hormone, seine Mutter, sein Vater, seine Mitschüler. Lichtblick: Es gibt die Nachbarin S., ebenfalls 14. S. hat auch Probleme, mit Körper, Sprache, Schule. Die versteht ihn. Gut. Bisher. Aktuell aber leider nicht. S. ist verliebt in D., welcher 16 ist und Hintergrund hat, Kaukasus. A. dreht durch bis zur Suizidnähe. Dann aufbauende Entwicklung mit Krimianteil, quasi Licht am Horizont. Schluss.

Kann man interessant finden, muss man aber nicht. Irrtum, muss man, wenn man HSA hat. Das ist jetzt keine Krankheit, sondern Hauptschulabschlussprüfung in Deutsch. In Baden-Württemberg.

A. ist eine Kopfgeburt der Autorin Susan Kreller. Er durchwandert ihr Buch »Schneeriese« in Riesenschritten und verschwindet wieder. Er bleibt Kopfgeburt. Bruchsatzstil. »Die Wege außen herum, die zählen nicht. Die sind schlicht und einfach ungültig. Man muss durch die Dunkelheit durchgehen. Ganz. Glaub mir, ich hab’ kein einziges Mal das Licht angemacht. Die ganze Zeit nicht.«

Das war die Pflichtlektüre aller Deutschschüler der Klassen 9/10 im Schuljahr 2019/20 und Teil der Prüfung. –

E. hat auch Probleme. Er ist 15. Aktuelle Probleme: Körper, Hormone, Mutter, Vater, Schule. Deshalb ist er in einem Internat mit SBBZ (»Sonderschule«). Er hat Psychiatrie­erfahrung, Medikationen, Therapien hinter und neben sich. Er ist gerade verliebt. On/Off. Eher unglücklich. In F. Die ist 16. Sie hat Probleme mit Körper, Hormonen, Sprache, Familie, sich. Unterschied: E. und F. sind keine Kopfgeburten, sondern Schüler meiner Klasse. Sie wollen den HSA als Schulfremde und sie geben wirklich viel dafür.

Viele Schüler an SBBZs sind »Nichtleser« oder »Nichtmehrleser«. Aber mit Motivation und Beziehungsarbeit: Geht doch. Eigentlich. Oft.

Sie lesen und fassen zusammen und nuancieren innere Monologe. Sie versuchen, sich in die Positionen der Figuren einzufühlen und schreiben »produktive« Dialoge.

Was sie jedoch eigentlich hier leisten müssen, ist eine Psychotherapie. Das ist aber mehr als Deutsch.

Bald vermischen sich im Unterricht die realen schwierigen psychischen Lebenssituationen der echten Schüler und die der fiktiven des Buches. Das war vielleicht so geplant von den Deutschplanern der zuständigen KuMi-Ressorts. Oder von deren Therapeuten.

Das ist für Normalos möglicherweise dann so prickelnd wie RTL2 vom Sofa aus, für andere ein Triggersignal für den Überlebens-Krisenmodus. Es trifft diese Art Textauswahl die instabilen Schüler doppelt, überfordert und diskriminiert sie permanent: Warum müssen dicke Mädchen in der Deutschprüfung Texte über dicke Mädchen analysieren, warum psychisch angeschlagene Jugendliche Texte über psychisch angeschlagene Menschen durchdenken, nur um im Fach Deutsch geprüft zu werden? Wie fühlte sich diese Prüfung an, wenn die Texte das Thema »Prüfungsverweigerung« behandeln würden? Oder das Thema »Prüfungsungerechtigkeit«?

Und im nächsten Schuljahr? – Ah, »Der Sonne nach« von Gabriele Clima. Oh, der Klappentext: »D. ist 16 und voller Wut. Einer, dem alles egal ist, vor allem seitdem der Vater die Familie verlassen hat. Nachdem D. in der Schule randaliert hat, wird er zu gemeinnütziger Arbeit verdonnert.«

Den kenne ich doch. Das ist ja G. aus meiner Klasse. Der will den Abschluss 2021. Das wird was. – Verstehen Sie, was ich meine?

Der Autor (der Redaktion namentlich bekannt) ist Lehrer in Süddeutschland.