Peripherie

50 Jahre Haager Kreis

Nana Göbel
Der Haager Kreis – heute Internationale Konferenz – 2019 in Edinburgh

1969 zeigte sich auf der 50-Jahrfeier der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe mit 2.500 Gästen in der Stuttgarter Liederhalle in vielen Gesprächen eine deutliche bildungspolitische Signatur: Der für eine Waldorfschule unbedingt notwendige Freiheitsraum wurde im bildungspolitischen Kontext besonders der sozialdemokratisch regierten Länder immer mehr beschnitten. Willem Kuiper, der Überbringer der Grüße aus den Niederlanden, berichtete Ernst Weißert, dem damaligen Vorsitzenden des Bundes der Freien Waldorfschulen in Deutschland, von den dortigen Anfeindungen. Ernst Weißert trug das Bild einer weltweiten Waldorfbewegung in sich und sah, wie notwendig ein Weltschulbewusstsein für diese Bewegung war. Weißert antwortete Kuiper: »Wir sollten eine Gruppe bilden von ›Sachverständigen‹ aus allen Ländern, die mit dem Staat verhandeln müssen. Wir sollten regelmäßig zusammenkommen und die Sachlage besprechen, am liebsten im Haag.« Damit war der Haager Kreis geboren, jene Zusammenarbeit der internationalen Waldorfschulbewegung, die seit Pfingsten 1970 zweimal im Jahr als Internationale Konferenz der Rudolf Steiner Schulbewegung stattfindet. 

In die Bildungspolitik einmischen

Es sollte damit ein auf Vertrauen und Freundschaft aufgebautes lebenspraktisches Instrument geschaffen werden – mit einer alltäglichen, äußerlichen Dimension und einer weltweiten Verbundenheit durch gemeinsame spirituelle Impulse. Im Mai 1970 fand die erste Zusammenkunft an der Vrije School in Den Haag statt. In den ersten Jahren kamen die Kollegen in der Regel abwechselnd zu Pfingsten in Den Haag und im November in Stuttgart zusammen. Heute leben nur noch zwei Mitglieder dieses Gründungskollegiums: Shirley Noakes und Bengt Ulin.

Mit der Gründung des Haager Kreises sollte keine Gegeneinrichtung zur Pädagogischen Sektion am Goetheanum und zu deren Beraterkreis geschaffen werden, wohl aber lag in ihm eine versteckte Kritik an deren Untätigkeit angesichts der sich zuspitzenden Probleme der Waldorfschulbewegung. Die europäischen Waldorfschulen sollten sich zusammenschließen und eine gemeinsame politische Linie finden, vor allem wegen des Mangels an Freiräumen im Schulwesen. Der Kreis sollte sich über Schulgesetze, Subventionsfragen, Neugründungen, Lehrernachwuchs u.ä. austauschen. Weitere Themen waren die Lehrerbildung, die Verbindung zur Anthroposophie, die inneren Fragen der Oberstufenschüler, die Herausforderung eines unbürgerlichen, imaginativen, zukunftsoffenen Unterrichts, die Frage, wie die allgemeine Tendenz zur Verschulung der Schule abgewendet werden kann.

Das Gegenmittel gegen die Verbürgerlichung ist die Anthroposophie

Während einer der Sitzungen beschrieb Reijo Wilenius, der finnische Philosophie-Professor und Gründer der Snellman Hochschule in Helsinki, den Lehrer als einen Menschen, der die Tendenz zur Verbürgerlichung in
sich trägt. Ein Gegenmittel sei die Anthroposophie. Ernst Weißert schrieb in einem Brief an Wilenius, in dem es um das strategische Vorgehen des Kreises ging: »All diese Jahre habe ich mich gegen ein vorschnelles Wiederaufleben des Weltschulvereins gewehrt – der Gedanke, wie ihn Rudolf Steiner seit 1921 äußerte, ist heute nicht mehr ohne weiteres lebendig, überall beherrscht das Staatsschulwesen die Gedanken. Wir sollten jetzt eine rein anthroposophische Vereinigung der Waldorfschulen um die Erde machen und von da aus versuchen, wieder den Gedanken des freien Schulwesens und des freien Geisteslebens von den Elternschaften her lebendig zu machen.«

Die Kooperation mit der Pädagogischen Sektion am Goetheanum gelang, und ab 1974 fanden die internationalen Lehrertagungen in Dornach in gemeinsamer Verantwortung statt. Der geographische Radius wurde ausgedehnt und Teilnehmer aus den USA und Brasilien eingeladen.

Auf Initiative von Ernst Weißert fand in Zusammenarbeit von Haager Kreis und Pädagogischer Sektion, der deutschen Schulbewegung und der Waldorfschule Uhlandshöhe Anfang 1979 eine Tagung mit etwa 750 Teilnehmern – davon 180 aus Australien, Südafrika, Südamerika, USA und Kanada und den europäischen Ländern – in Stuttgart auf der Uhlandshöhe statt, um den geschichtlichen Knotenpunkt bewusst zu ergreifen, die spirituellen Quellen der anthroposophischen Pädagogik neu zu erschließen und die Bildung einer Weltschulbewegung zu impulsieren. 33 Jahre waren seit dem Wiederbeginn der Waldorfpädagogik nach der Nazi-Herrschaft vergangen. Johannes Tautz benannte drei große Motive als Herausforderungen der Gegenwart: 1. die Begründung einer ich-haften Pädagogik, 2. die Abnutzung aller Kulturerbschaften 3. eine sich zunehmend realisierende geistige Öffnung durch veränderte Fähigkeiten der nachwachsenden Generation. Alle vereinte der Eindruck, dass die ganze Bewegung einen großen Schritt vorwärts gemacht habe, der auf alle ausstrahlte, das Erlebnis eines großen, weltweiten Kollegiums. Es zeichnete sich langsam eine Globalisierung der Waldorfpädagogik ab, auch wenn das damals noch nicht so genannt wurde.

Mit Jörgen Smit (1916–1991), der 1981 die Leitung der Pädagogischen Sektion am Goetheanum übernahm, ergab sich eine intensivere Verständigung, sodass der Haager Kreis in den 1980er Jahren eine engere Kooperation mit der Pädagogischen Sektion eingehen konnte. Smit ergriff nun die Initiative für eine Welttagung der Waldorflehrerschaft und schlug vor, die Vorbereitung der ersten 1983 ganz in die Hände des Haager Kreises zu legen. Und dabei blieb es bis heute.

Etwa 65 Jahre nach der Gründung der ersten Waldorfschule, dem Aufbau einiger weniger Pionierschulen, dem Wiederbeginn nach dem Zweiten Weltkrieg und der Ausbreitung in Europa bis zu einer einigermaßen öffentlich wahrnehmbaren Größe begann sich jetzt die Phase zu einer weltweiten Bewegung anzukündigen.

Nun musste die innere Verfasstheit der Waldorfbewegung genauso wie die soziale Gestaltung der Schulgemeinschaft, die Führung von Schulen und Schulbewegung in den Blick genommen werden. Die dritte große Weltlehrertagung 1989 mit Kollegen aus den Ländern der Südhemisphäre und aus den Ländern, die zuvor hinter dem Eisernen Vorhang abgeschlossen waren, bildete den Beginn einer wirklichen Weltschulbewegung.

Jörgen Smit einte die Waldorfbewegung wie keiner zuvor. Konvention war ihm zuwider. Stand er aber einmal auf der Bühne, zum Beispiel 1984 im Audimax der Universität in Tübingen vor einem Publikum tausender tobender Studenten, und begann mit seiner donnernden Stimme zu reden, erntete er schon nach wenigen Worten Stille und gespanntes, aufmerksames Zuhören, denn hier redete jemand, der nicht politisch korrekt sprach, der sich geistig unmittelbar an eines jeden Mensch Sein richtete. Dieser großgewachsene Norweger, der über 25 Jahre kleine Kinder unterrichtet, dann die Lehrerausbildung im schwedischen Järna aufgebaut hatte und schließlich seinen aufopferungsvollen Dienst für die anthroposophische Bewegung antrat, übergab 1989 seine Arbeit an den Schweizer Heinz Zimmermann.

Lernen durch Leben

Die Europa umgestaltenden Ereignisse von 1989 erfüllten die nächsten Sitzungen. Von November 1990 an erfolgte die Aufnahme neuer Schulen in die sogenannte Weltschulliste durch Beschlussfassung im Haager Kreis; ab 1992 wurde intensiv an der Entwicklung eines international brauchbaren allgemeinen Rahmenlehrplans für die Waldorfschule gearbeitet. Auf diesem Weg entstand dann der sogenannte Richter-Lehrplan.

Ein Brennpunktthema für die folgenden Jahrzehnte wurde die Situation der Oberstufen. Das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern und auch die Formen des Lernens hatten sich grundlegend verändert. Dass Lernen durch das abwägende Bewegen von Gedanken stattfindet, schien immer mehr zu verschwinden, ja, ein sehr gedanklich gehaltener Unterricht schien nur noch eine Minderheit in den Klassen zu erreichen. Die schon von Rudolf Steiner gestellte »wuchtige« Aufgabe, Schule mit dem Leben zu verbinden, wurde immer dringlicher. Einig wurden sich die Teilnehmer schnell, dass nur noch echter, existenzieller Unterricht zu einer Schülerbegegnung und zu lernendem Aufwachen führt. Fällt ein Lehrer in konventionelle Lernrituale zurück, hat er den Bezug verloren. Da sich das »Waldorflehrer-Bewusstsein« nicht von selbst ausbildet, sondern hart erarbeitet werden muss, braucht es Anregungen während der Ausbildung, zum Beispiel durch den Goetheanismus als Quelle selbsterzeugten Denkens und innerer Lebendigkeit.

Lehrpläne – für alle Kulturen?

Von 1996 an lag die Vorbereitung der Weltlehrertagung in den Händen von Christof Wiechert. Endlich war die Waldorfschulbewegung in der Realität einer weltweiten Bewegung angekommen und musste sich von den unhinterfragten deutsch geprägten Traditionen verabschieden. Das gleiche galt für die Lehrplandiskussionen. Es wäre zu einfach, in den Ländern der Südhemisphäre oder in Asien die europäischen Elemente aus dem Lehrplan zu streichen und durch eigene, national-kulturelle Elemente zu ersetzen. Die Erzählungen aus Südafrika über die Liebe der Kinder zur nordischen Mythologie oder zur Parzivalgeschichte und über ihren Protest beim Versuch, diese durch afrikanische Mythen zu ersetzen, warf Fragen nach einem gesamtmenschheitlichen Lehrplan auf: eine riesengroße Forschungs- und Entwicklungsarbeit, die noch zu leisten ist.

Im Haager Kreis zeichnete sich ein Wechsel ab, denn von September 2000 an lud Christof Wiechert, der designierte neue Leiter der Pädagogischen Sektion, zu den Sitzungen ein und nicht mehr Stefan Leber. Von nun an wuchsen Pädagogische Sektion und Haager Kreis noch enger zusammen und der Haager Kreis wurde zum internationalen Wahrnehmungsorgan. Christof Wiechert wollte die internationale Zusammenarbeit von Pädagogischer Sektion, Haager Kreis und den Freunden der Erziehungskunst dynamisch und einander ergänzend entwickeln. Wiechert stellte die Phantasietätigkeit in den Mittelpunkt der 7. Weltlehrertagung, denn in ihr sah er den Ausgangspunkt jedes lebendigen Unterrichts.

Für den Haager Kreis erwies sich im Jahr 2005 eine gemeinsame Reise nach Südafrika als Meilenstein für das Erleben der internationalen Schulbewegung. Für so manchen Teilnehmer war dies die erste Reise auf den afrikanischen Kontinent und die Situation der Waldorfschulen in den Townships und Homelands eine tief erschütternde Erfahrung. Im November des gleichen Jahres begannen die sich über Jahre hinziehenden Diskussionen um eine adäquate, nicht normierende, freilassende und doch das Essentielle zutreffend charakterisierende Beschreibung der Waldorfpädagogik. Aus dieser Beschäftigung entwickelten sich die »Wesentlichen Merkmale der Waldorfpädagogik«, die 2016 in Arles verabschiedet wurden. Gleichzeitig mit diesen Diskussionen nahmen die Gespräche zur Handhabung des Markenrechts Fahrt auf. Auch bei diesem sensiblen Gebiet dauerte es viele Jahre, bis ein abgestimmtes und gemeinsam getragenes Verfahren verabschiedet werden konnte.

2006 verabschiedete sich Shirley Noakes nach 35 Jahren Mitarbeit im Haager Kreis. Die großen Reden waren nicht ihr Metier, wohl aber das qualifizierte Zuhören. Eine bestimmte Phase kam zu einem Ende. Die tiefschürfenden deutsch-sprachigen monolithischen Ausführungen, die jeweils aufs stärkste beeindruckten, aber zu keinem Gespräch führten, wurden mit der Zeit abgelöst durch dialogischere Beiträge, die aber nicht mehr so tief schürften. Jede Phase zeichnete sich eben durch ganz bestimmte Qualitäten aus.

Christof Wiechert erweiterte den Haager Kreis enorm; er lud Menschen aus Asien, Afrika und Lateinamerika ein. Heute ist der Kreis auf etwa vierzig Menschen aus allen Kontinenten angewachsen. 2009 wurde er in Internationale Konferenz der waldorfpädagogischen Bewegung umbenannt, um die Aufgabenstellung auch im Namen zu verdeutlichen. 2012 wurde ein Trägerverein mit Sitz in der Schweiz gegründet, um künftig auch Mitarbeiter beschäftigen zu können. Die Aufgabenstellungen nahmen mit der sich dramatisch verändernden Weltlage im letzten Jahrzehnt zu und intensivierten weiter die Zusammenarbeit.