Abendandacht

Henning Köhler

Folge deinem Stern. Gehe deinen Weg. Ich will dir mein Herz öffnen, um immer besser zu erfühlen, was du brauchst, um dich nicht zu verfehlen.

Und doch wirst du dich verirren. Wir kommen in das Erdenexil, um einige Dinge zu erfahren, die nur hier er­fahren werden können. Dazu gehört der geheimnisvolle Zusammenhang zwischen Freiheit und Irrtum. Um den richtigen Weg zu erkennen, müssen wir zuweilen von ihm abirren. Wollte ich dich vor allen Verirrungen bewahren, gar noch vorgreifend auf die Zukunft, hieße das, dir deine Freiheit zu nehmen. So will ich dich denn begleiten auf allen deinen Wegen, auch wenn es dunkle Wege sind. Sei versichert: Du bist nicht allein.

Mein tiefes, warmes Interesse soll der Raum sein, in welchen hinein du dich aufrichten kannst zu dir selbst. Mein tiefes, warmes Interesse soll aber auch ein Schoß sein, in welchen hinein du vertrauensvoll weinen kannst, wenn dir nach Weinen ist. So, wie du bist, bist du mir teuer, in guten wie in schlechten Zeiten, vergiss das nie.

Manchmal werde ich diese meine Worte Lügen strafen durch mein Verhalten; werde ungerecht, ungeduldig, egoistisch sein. Man soll keine falschen Versprechungen machen. Vielleicht wird es mir in der einen oder anderen dunklen Stunde so vorkommen, als ob meine Liebe zu dir erloschen wäre. Verzeih, wenn das geschieht. Auch die Liebe geht durch Prüfungen.

Nie aber will ich nachlassen in meinem Bemühen, dich zu verstehen. Jeder Tag ist ein neuer Tag. Jeden Abend werde ich dir sagen, und sei es nur in Gedanken: Verzeih mir meine Unachtsamkeiten, Ungeschicklichkeiten, Ungehaltenheiten, Lieblosigkeiten. Jeden Morgen werde ich dich begrüßen mit der Frage im Herzen: »Wer bist du, Kind?« Diese Frage soll mich leiten. Sie genügt sich selbst. Es ist keine von den Fragen, die nach Antworten des Verstandes verlangen. Ihr gegenüber gibt es nur ein Antwort-Fühlen. Ich glaube, jeder echte Moment der Begegnung zwischen uns kann das ermöglichen.

Ich will ja nicht in dich dringen. Du bist und bleibst ein Geheimnis. Das ist richtig so. Ich will mir auch keine Vorstellungen davon machen, wie du sein solltest; will mich hüten, meine Wünsche zu verwechseln mit dem, was in dir lebt und sich offenbaren will.

Auch was an Schwerem auf dich zukommen mag, werde ich, soweit meine Kräfte reichen, wie eine treue Freundin, wie ein treuer Freund mit dir tragen. Es ist dein Leben. Deine Zukunft. Du bist nicht mein Kind. Du wirst nicht mein Werk sein. Im Einverständnis mit deinem Engel hast du mich erwählt, dich zu begleiten und zu beschützen, bis du meines Begleitschutzes nicht mehr bedarfst. Das erfüllt mich mit Dankbarkeit. Es ist eine große Auszeichnung.

Werde, der du bist.

Und nun führe mich, Kind, auf dass ich dich zu führen vermag.