Die Ursache für AD(H)S ist angeblich eine genetisch bedingte Hirnstoffwechselstörung. Dabei handelt sich um eine Arbeitshypothese. Ob sie plausibel erscheint oder nicht, hängt davon ab, welches Wissenschaftsverständnis, welche anthropologische Konzeption man zugrunde legt. Auf Studien können sich Befürworter wie Skeptiker stützen. Der Wettbewerb ist allerdings unfair. Großstudien zur Stützung des AD(H)S-Konstrukts werden meist von Pharma-Konzernen gesponsert. Die wissenschaftliche Opposition muss kleinere Brötchen backen. Darin liegt aber auch eine positive Herausforderung: Quantität (Datenberge) durch Qualität (gründliches Denken) zu ersetzen. Wenke macht’s vor. Seine Erörterungen erfordern aktives Mitdenken. Wer sich dem unterzieht, wird kaum umhin können, festzustellen, dass die AD(H)S-Hypothese auf einem überholten Maschinenmodell vom Menschen beruht.
Bezug nehmend auf Alfred Adler, Edmund Husserl, Maurice Merleau-Ponty (seine wichtigsten Gewährsleute) und andere eigenwillige Denker der Vergangenheit und Gegenwart, skizziert Wenke ein integrales (»holistisches«) Menschenbild. Er zeigt die Unzulänglichkeiten des Biologismus, des Empirismus, des Behaviourismus, erliegt jedoch nie der Gefahr, in esoterische Spekulationen abzuirren. Sein Anliegen ist es, die Psychologie davor zu bewahren, dass sie unter dem Diktat naturwissenschaftlichen Methodenzwangs ihre Existenzberechtigung als eigenständiges Forschungsfeld verliert. Deshalb entwickelt er Grundbegriffe einer »Meta-Psychologie«, die sich aus den Quellen der klassischen Tiefenpsychologie, der humanistischen Psychologie, der Phänomenologie und des Existenzialismus speist. Auch die frühe indische Philosophie und einige Autoren mit anthroposophischem Hintergrund finden Berücksichtigung.
Ausführlich befasst sich Wenke mit der Frage, was eigentlich »Diagnostik« bedeutet. Er kritisiert die gängige Praxis der mängeldiagnostischen Etikettierung abweichenden Verhaltens. Wenke plädiert für eine »verstehende« und »dialogische« Diagnostik, die es gar nicht darauf absieht, Defizite zu markieren: »Verstehen ist (…) das offene Ergebnis eines intensiven Kommunikationsprozesses, in dem für beide Partner etwas ungeplant Neues entsteht.« Keine standardisierte Diagnostik kann diesen Prozess ersetzen.
Am meisten berührt, mit welchem Respekt Wenke über beunruhigte, verängstigte, verstörte, trostbedürftige Menschen spricht: »Immer bleibt ein Geheimnis, dessen bedingungslose Achtung uns bescheiden und ebenbürtig macht.« Ich wünschte jedem Kind, das es schwer hat, herunterzuwachsen in diese kindheitsferne Welt, einen Therapeuten, der wie Mathias Wenke denkt.
Matthias Wenke: ADHS: Diagnose statt Verständnis? Wie eine Krankheit gemacht wird. Eine phänomenologische und individualpsychologische Sicht, brosch., 195 S., EUR 19,90, Brandes & Apsel Verlag, Frankfurt a.M. 2018