Er stellt dieses Thema erstmals gesamthaft, also für alle Lebensbereiche der altägyptischen Kultur – von der Mythologie über die Architektur und den Kultus bis zur nachtodlichen Dimension – dar. Immer wenn die Reichseinigung gelang, blühte die Kultur. Zerfiel sie, wurde Ägypten von Krisen erschüttert.
Diese »Vereinigung« erlebte der Ägypter nicht – oder nicht in erster Linie – als militärische Aktion, sondern als einen gefährdeten Prozess, für dessen Gelingen der König zuständig war, der die Vereinigung auch durch Kulte – etwa das Sethfest – aufrecht erhalten und erneuern musste. Damit eröffnet der Autor eine ganz neue Dimension dieser Symbolik und zugleich offeriert er einen Schlüssel zum Verständnis der ganzen Kultur. Die Bilderwelt der Ägypter beginnt zu sprechen. Schon alleine, dass Lotus (für Oberägypten) und Papyrus (für Unterägypten) in der Hieroglyphe der Lunge und Luftröhre verbunden werden, deutet auf einen Atemprozess hin, auf Ausgleich und Harmonisierung von Polaritäten, die ja schon geographisch offensichtlich sind, mit der Wüste im Süden und dem fruchtbaren Nildelta im Norden, oder mit dem Gott Seth, dem Todesbringer, der für Oberägypten und Horus, den Verlebendiger, der für Unterägypten steht. So betont Sandkühler, dass Seth, obwohl er in der Mythologie als Widersacher auftritt, dennoch wichtig und »gut« ist, denn es geht immer um die Harmonisierung von todbringenden (Seth) und lebenschaffenden (Horus) Kräften, von Nerven-Pol und Stoffwechsel-Pol im Rhythmus (Atem). Bis in die Physiologie hinein lässt sich das »sema tawy« als durchgehende Thematik der altägyptischen Kultur verstehen. Mit seinem reichhaltigen, sehr guten Bildmaterial wird der Text zu einem Führer durch die ägyptische Bilderwelt.
Bruno Sandkühler: Lotus und Papyrus. Der Atem Ägyptens, geb., 200 S., EUR 58,– Verlag am Goetheanum, Dornach 2018