Afghanistan und Stolpersteine. Wenn die Welt in die Schule kommt, kann der Unterricht anstrengend werden

Theresia Ziegs

Jeden Morgen spricht Sibylla Hesse in den ersten 15 Minuten mit den Schülern über ein Thema, das sie sich wünschen. Danach erst vermittelt sie den Unterrichtsstoff. Der sogenannte »Aufwärmer« erfreut die Schüler jedes Mal von Neuem. So finden aktuelle politische Themen und Zeitfragen, etwa der Afghanistan-Krieg, in dem Schulalltag ihren Platz. Mit den Worten: »Noch Fragen, Wünsche, Ergänzungen?«, fordert Hesse die Schüler auf, mitzureden und zu diskutieren. Die 47-Jährige möchte, dass ihre Schüler »aktive Zeitgenossen werden«. Es sei wichtig, die Gegenwart zu kennen, um sich engagieren zu können. Dazu möchte sie die Schüler begeistern und zur Selbstständigkeit anregen.

Wenn Schüler Lehrer sind

Um das zu erreichen, startete sie einmal das Projekt »Schüler als Lehrer«. Dabei half sie einem Zwölfklässler, im Rahmen seiner Jahresarbeit einer 10. Klasse die NS-Zeit näher zu bringen. Sie bereitete mit ihm die Stunden vor, und er unterrichtete dann die Jüngeren. »Wenn Schüler Wissen vermitteln, bekommen sie einen tieferen Zugang zum Thema und verdeutlichen es sich selbst«, sagt Hesse. Ähnlich arbeitete sie mit dem Geschichtsleistungskurs an der Waldorfschule Trier, wo sie bis 2003 unterrichtete. Während dreitägiger Foren boten Abiturienten für jüngere Klassen zu den Themen ihrer Prüfungsschwerpunkte Seminare an.

»Lehren wird nie langweilig«, sagt Hesse nach zwanzig Jahren Berufserfahrung. Neben Geschichte unterrichtet sie auch Französisch und Kunstgeschichte. In manchen Epochen verbindet sie ihre Kenntnisse. Auf Wunsch der Schüler gestaltet sie den Kunstgeschichtsunterricht in der 11. und 12. Klasse zweisprachig französisch-deutsch. Und wenn sie Bilder zeigt, dann stammen diese häufig aus einer großen Sammlung eigener Dias, denn sie reist gern und hat viele Bau- und Kunstwerke fotografiert.

Eine Frau, die vollen Einsatz erwartet

Immer neuen Anforderungen stellt sich die anspruchsvolle, blonde Frau. Alle zwölf Jahre zieht sie um. Doch nicht nur von sich, sondern auch von den Schülern erwartet sie vollen Einsatz. Wer sich für eins ihrer Projekte anmeldet, muss mit einer Menge Arbeit rechnen. Aber man lernt viel von ihr und sie lernt von den Schülern. »Denn der Kontakt mit jungen Menschen und deren Sicht auf die Welt erweitert meinen Horizont und fordert mich heraus, meine eigenen Ansichten immer wieder zu prüfen«, sagt sie.

Die Anthroposophie zeige, wie der individuelle Mensch gefördert werden könne. Sie hat selbst eine Waldorfschule besucht. »Das ist eins der größten Geschenke in meinem Leben gewesen«, findet Hesse, »denn diese Zeit hat mich ungemein geprägt.«

Besonders wichtig waren ihr Lehrer, die ihr ohne Vorurteile zuhörten. Schon als Kind liebte sie besonders den Werkunterricht. Überhaupt hatte sie große Freude an der praktischen Arbeit, und noch im Studium nahm sie an Eurythmie-Kursen teil. Wer sie heute trifft, mag das kaum glauben. Denn sie wird von ihren Schülern und Kollegen nicht nur wegen ihrer zahlreichen Projekte, sondern auch wegen ihres theoretisches Wissens geschätzt.

Ob Streitschlichter, Dokumentarfilm oder Projekt zur Umweltbewegung – alles ist möglich

An der Potsdamer Waldorfschule bietet sie eine Streitschlichter-Ausbildung an und vor drei Jahren drehte sie mit Oberstufenschülern den Dokumentarfilm »Widerständige Jugendliche in der DDR«. Dieser Streifen gewann den 1. Preis des Viktor-Klemperer-Jugendwettbewerbs 2007. Es folgte ein Projekt zur Umweltbewegung in der DDR. Die Schüler interviewten viele Zeitzeugen, so auch Brandenburgs Ministerpräsidenten Matthias Platzeck, der in den 1980er-Jahren in der DDR-Umweltbewegung aktiv war. Es entstanden ein Internetauftritt und eine Wanderausstellung, die an Schulen und in der Potsdamer Staatskanzlei gezeigt wurde. Auch dieses Projekt erhielt einen Preis im Geschichtswettbewerb »Jugendforum 09«.

Zur Zeit arbeitet Hesse mit Oberstufenschülern ihrer Potsdamer Schule an einem Projekt zu »Stolpersteinen«. Dabei soll an vier Potsdamer Juden erinnert werden, die 1942 in ein Ghetto nach Riga deportiert wurden. Um mehr über diese Menschen herauszufinden, recherchieren Sibylla Hesse und ihre Schüler in Archiven und spüren verschwundene Lebensläufe und Schicksale auf. Selbstständigkeit und Engagement der Schüler zu stärken, das ist Hesses Ziel.

Und wer ehemalige Schüler fragt, was ihnen spontan zu Hesses Unterricht einfällt, erhält prompt die Antwort: der »Aufwärmer« – denn so kommt die Welt in die Schule.

Die Website zum Geschichtsprojekt Umweltbewegung in der DDR