Am 24. August 1922 formuliert Rudolf Steiner in Oxford den Auftrag »alles Erziehens und Unterrichtens« so: »Es soll danach streben, aus Menschenkindern physisch gesunde und starke, seelisch freie und geistig klare Menschen zu machen. Physische Gesundheit und Stärke, seelische Freiheit und geistige Klarheit machten aus, was die Menschheit in der zukünftigen Entwicklung auch in sozialer Beziehung am meisten brauchen werde« (GA 305). Entsprechend ist der Waldorflehrplan angelegt. Alle Unterrichtsinhalte zielen darauf ab, jene körperlich-seelisch-geistigen Anregungen zu vermitteln, die für eine gesunde Entwicklung nötig sind. Auch wenn Steiner nicht der Schöpfer des Begriffs »Salutogenese« gewesen ist – es war dies der amerikanische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky (1923-1994) – so kann man doch heute sagen, dass Steiner der Begründer einer durch und durch salutogenetisch orientierten Pädagogik gewesen ist.
Im Zentrum von Antonovskys Salutogenese-Forschung steht die Entwicklung des Kohärenzgefühls. Er fand heraus, dass ein Mensch umso gesünder ist und bleibt, je mehr er das Gefühl hat, sich und die Welt zu verstehen, seinen Erlebnissen einen Sinn geben zu können und das, was er gerne tun möchte, auch tun zu können. Die Befähigung dazu sei Aufgabe der Erziehung, auch wenn Antonovsky dazu keine Angaben macht. Steiner hingegen betont in der ganzen Unterrichtsmethodik und Didaktik die Rolle des Gefühls. »Im ästhetischen Empfinden liegt der Keim, aus dem das Intellektuelle sich entfalten soll« (GA 305). Das heißt, Gedanken, Intellektuelles, sollten nie ohne Bezug zum persönlichen Empfinden, worum es geht, gelehrt werden. In der sogenannten »Sonntagshandlung« für Kinder, die er im Rahmen des freien christlichen Religionsunterrichts für konfessionell nicht gebundene Kinder eingeführt hat, formuliert er seine Version des dreifachen Kohärenzgefühls so: »Wir lernen, um die Welt zu verstehen. Wir lernen, um in der Welt zu arbeiten. Die Liebe der Menschen zueinander belebt alle Menschenarbeit. Ohne die Liebe wird das Menschensein öde und leer. Christus ist der Lehrer der Menschenliebe« (GA 269).
Dass ein solcher Erziehungsauftrag sowohl für die Lehrerbildung als auch für die tägliche Unterrichtspraxis eine große Herausforderung darstellt, liegt auf der Hand. Sich daran zu orientieren und darüber mit Kollegen in der Schule im Gespräch zu sein, erweist sich jedoch auch als Grundpfeiler der Lehrergesundheit.
Zur Autorin: Dr. Michaela Glöckler, Kinderärztin, ist ehemalige Leiterin der Medizinischen Sektion am Goetheanum/Dornach.
Literatur: R. Steiner: Die geistig-seelischen Grundkräfte der Erziehungskunst, GA 305, Dornach 1991, S. 69, S.146; A. Antonovsky: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit, Tübingen 1997; R. Steiner: Ritualtexte für die Feiern des freien christlichen Religionsunterrichts, GA 269, Dornach 1997, S. 42-44.