Aktuelle Themen – Schule und Beruf

Wilfried Gabriel

Unsere Waldorfschulen verfügen über jahrzehntelange positive Erfahrungen mit einem Bildungskonzept, das sich nicht in erster Linie von überkommenen Bildungsinhalten leiten lässt, die von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interessen her definiert sind, sondern von den Entwicklungsaufgaben und -prozessen von Kindern und Jugendlichen.

Es ist Bildungskonzept, das kognitive, künstlerische und handwerklich-praktische Unterrichtsangebote integriert und angesichts der gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen immer aktueller wird. Zu diesen Herausforderungen gehören mangelnde Bildungs­ge- rechtigkeit, zunehmender Akademisierungswahn, fehlende Anerkennung des praktisch-beruflichen Lernens, Inklusion als Sparmodell, Segregation statt Integration und der Digitalisierungshype in den Schulen.

Das Bildungskonzept der Waldorfpädagogik antwortet mit Lernprozessen, die einen produktiv-kreativen Umgang mit der Welt vermitteln und dadurch personale Autonomie und Selbstständigkeit veranlagen.

Praktisches Lernen weiter entwickeln

Als Rudolf Steiner 1919 die erste Waldorfschule aus einem gesellschaftlichen Reformimpuls heraus gründete, war sein Ziel eine Schule, die auf das Leben vorbereitet, für alle offensteht und keinen zurücklässt. Ihr Motto war und ist: »Lebenskunde soll aller Unterricht geben«. »Lebenskunde« kann in der Waldorf-Oberstufe in einem sehr modernen Sinn als methodischer Leitbegriff verstanden werden. Sie vermittelt eine praktische und fächerübergreifende Studien- und Berufsorientierung und schließt konkrete Formen der Integration von beruflicher und allgemeiner Bildung ein. Steiner dachte durchaus an einen praktischen Unterricht, der in Werkstätten erteilt wird und bei dem brauchbare und notwendige Gegenstände erzeugt und verkauft werden sollten. In der modernen Arbeit sah er einen Prozess der individuellen, aber auch sozialen Selbstwerdung des Menschen – Arbeiten als Arbeit mit Anderen und für Andere in einer globalen, arbeitsteiligen Gesellschaft.

Den ursprünglich trialen Bildungsgang (kognitives, kreatives und arbeitspraktisches Lernen) konnte die erste Waldorfschule nur in ihrer Unterstufe, den Klassen 1-8 verwirklichen, in ihrer Oberstufe jedoch nicht konsequent weiterführen. Die Waldorfschulen wurden zum »historischen Kompromiss« und sind in der großen Mehrheit bis heute in ihrer Oberstufe gymnasial geprägt.

Die vor 100 Jahren gestellten Aufgaben haben jedoch nichts von ihrer Aktualität eingebüßt, ebenso wenig wie die Gestaltungskraft der Waldorfpädagogik für die gegenwärtigen Probleme unseres Bildungswesens. In Ergänzung und als Alternative zum gymnasialen Lernweg haben einige Waldorfschulen (Herne, Kassel, Nürnberg, Berlin, Waldorf-Berufskollegs in NRW) den »volkspädagogischen Impuls« Steiners aufgenommen und unterschiedliche Konzepte der Verbindung von beruflichem und allgemeinbildendem Lernen entwickelt.

Und sind dabei neue Wege gegangen: So gibt es zum Beispiel Möglichkeiten, das praktische Lernen der Unter- und Mittelstufe als erstes Jahr einer Berufsausbildung anerkennen zu lassen und Formen der »Doppelqualifikation« (Berufsausbildung und Hochschulzugangs­berechtigung). Die hier zum Teil seit Jahrzehnten gemachten Erfahrungen sind ein wichtiger Beitrag zur aktuellen bildungspolitische Diskussion und den notwendigen Reformprozessen.

Um diese Ansätze weiterzuentwickeln, hat der Bund der Freien Waldorfschulen in Kooperation mit der Forschungsstelle für Waldorf-Arbeitspädagogik/Berufsbildung an der Alanus Hochschule ein überregionales Modellvorhaben »Berufsbildende Waldorfschule« auf den Weg gebracht. Unter der Devise: »Differenzieren statt Selektieren!« geht es dabei um eine Erweiterung der Bildungsangebote der Waldorfschule und um folgende Zielsetzungen:

  1. Die Entwicklung und Umsetzung eines neuen trialen Bildungsverständnisses, das eine Aufwertung des praktischen und beruflichen Lernens einschließt;
  2. Die Schaffung von organisatorischen Rahmenbedingungen, die eine flexible und didaktisch koordinierte Integration von allgemeiner beruflicher Bildung ermöglichen;
  3. Mehr Gestaltungsspielräume im Prüfungs- und Berechtigungswesen, die zu einer breiten Palette von doppelqualifizierenden Lernangeboten mit weiterführenden Zugangsberechtigungen führen können.

Zum Autor: Dr. Wilfried Gabriel, Waldorf-Berufskolleg Schloss Hamborn, Forschungsstelle Waldorf-Arbeitspädagogik, Berufsbildung an der Alanus-Hochschule Alfter.