Erziehungswissenschaftliche Kritik
Eine bis in die Gegenwart grundlegende Kommentierung seitens der Erziehungswissenschaft hat die Waldorfpädagogik erst in den 1980er Jahren erfahren, nachdem seit den 1970er Jahren eine Neugründungswelle von Waldorfschulen ihren Anfang nahm. Klaus Prange hat damals mit seinem 1985 erschienenen Buch unter dem schlagkräftigen Titel »Erziehung zur Anthroposophie« aus erziehungswissenschaftlicher Sicht das Grundproblem einer weltanschaulich befangenen, dogmatischen und auf Indoktrination ausgerichteten Pädagogik benannt. Heiner Ullrich, der in seiner Schrift »Waldorfpädagogik und okkulte Weltanschauung« eine detaillierte Auswertung der der Waldorfpädagogik zugrunde liegenden Anthroposophie vornimmt, kommt zum Schluss, dass es sich bei der Anthroposophie um eine »vormoderne«, sprich »voraufklärerische mystische Weltanschauung« handele, die den Maßstab gegenwärtigen wissenschaftlichen Denkens unterschreite. Die von beiden Autoren skizzierte Position ist bis heute in der Erziehungswissenschaft maßgeblich geblieben. Heiner Ullrich hat sie in seiner jüngsten Veröffentlichung »Waldorfpädagogik. Eine kritische Einführung« nochmals dezidiert wiederholt. Die Waldorfpädagogik ist nach Ullrich ideologisch von der Anthroposophie bestimmt. Dabei ist festzustellen, dass die ideologische Belastung der Waldorfpädagogik ungleich schwerer wirkt als beispielsweise die in wissenschaftlicher Perspektive nicht minder inkommensurable »kosmische Erziehung« von Maria Montessori. Während die Montessoripädagogik jedoch relativ unbelastet eine Pädagogik »vom Kinde aus« in vielen Schulen in staatlicher Trägerschaft praktiziert und auch in erziehungswissenschaftlichen Seminaren sachneutral und erkenntnisbezogen weitgehend unanstößig behandelt wird, ist der erziehungswissenschaftliche Zugang zur Waldorfpädagogik bislang in der Regel an der Anthroposophie gescheitert. Unterm Strich ist die erziehungswissenschaftliche Position, dass die waldorfpädagogische Praxis im Zuge einer liberalen Bildungspolitik einen Ort in der Privatschullandschaft beanspruchen kann und auch gelegentliche Anregungen für das öffentliche Bildungsleben bereithält, dass ihr Erfolg allerdings zu einem nicht unerheblichen Teil der komfortablen Absicherung bürgerlicher Elternhäuser geschuldet ist, die dem gesellschaftlichen Querschnitt bei weitem nicht entsprechen.
Empirische Wende
Wenn auch auf der einen Seite die theoretischen Grundlagen der Waldorfpädagogik seitens der Erziehungswissenschaft weitgehend abgelehnt oder ignoriert werden, so ist doch auf der anderen Seite die Praxis der Waldorfschulen in den vergangenen zwanzig Jahren zu einem extensiv beforschten Gegenstand der empirischen Forschung geworden.
Inzwischen liegen national und international mehr als 100 empirische Studien zur Waldorfpädagogik vor. Damit zählen die Waldorfschulen zu den bestbeforschten Schulen aus dem Umfeld der Reformpädagogik. Hervorzuheben sind die empirischen Studien von Heiner Ullrich, der ungeachtet seiner Theoriekritik der Waldorfpädagogik ein fortdauerndes Forschungsinteresse entgegenbringt und in Zusammenarbeit mit Werner Helsper eine umfassende Arbeit zur Klassenlehrerzeit vorgelegt hat. Diese Arbeiten werden durch zahlreiche quantitative Studien von Dirk Randoll und Heiner Barz ergänzt. Darüber hinaus existieren inzwischen auch internationale empirische Studien in Großbritannien, Schweden, den USA und der Schweiz. Insgesamt betrachtet, sprechen die meisten Studien den Waldorfschulen ein relativ gutes Zeugnis aus. Nach den Messkriterien der empirischen Bildungsforschung sind Waldorfschulen international wettbewerbsfähig, wobei die Schüler einen hohen Grad der Identifikation mit ihrer Schule aufweisen. Auch bei den Waldorflehrern, die schlechter vergütet werden als Regelschullehrer und auch keinen Beamtenstatus haben, liegen offenbar ein hoher Grad an Identifikation mit dem eigenen Beruf und eine große Leistungsbereitschaft bei gleichzeitig geringerer Burnout-Gefährdung vor.
Waldorfpädagogik im akademischen Kontext
Zu dem starken Anstieg der Zahl empirischer Untersuchungen im Bereich der Waldorfpädagogik kommt noch eine deutliche Veränderung in der Waldorflehrerausbildung hinzu. Diese hat sich seit 2007 zunehmend akademisiert. Im Zuge einer akademisch orientierten Entwicklung auf Basis des Bologna-Prozesses sind in Alfter, Stuttgart und Mannheim BA- und MA-Studiengänge für Waldorfpädagogik mit unterschiedlichen Profilschwerpunkten entwickelt und akkreditiert worden. Diese Entwicklung führte in der Waldorfpädagogik ebenfalls zu einer neuen Forschungs- und Wissenschaftskultur. Schon seit den 1980er Jahren besteht auf Initiative der Stuttgarter Hochschule ein Kolloquium von Erziehungswissenschaftlern und Waldorfpädagogen, die in regelmäßigen Abständen Publikationen mit Diskussionsbeiträgen vorlegen, die die Waldorfpädagogik in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit sichtbarer machen.
Seit 2010 publizieren die Alanus Hochschule und das Rudolf-Steiner-University-College in Oslo das wissenschaftliche Online-Journal RoSE (Research on Steiner Education), das zweimal jährlich erscheint (www.rosejourn.com). Darüber hinaus ist die Initiative INASTE (International Network of Academic Steiner Teacher Education) zu nennen (www.inaste.com), der akademisch orientierte Waldorflehrerausbildungsstätten aus Norwegen, Schweden, Frankreich, den Niederlanden, der Schweiz, Österreich und Deutschland angehören.
All diese Publikationen, Initiativen, Forschungsprojekte und institutionellen Entwicklungen zeigen, dass sich die Waldorfpädagogik im 21. Jahrhundert grundlegend zu verändern beginnt. Es geht verstärkt um eine Wissenschaftsorientierung und um eine forschungsbasierte Dialogoffenheit gegenüber der Allgemeinen Erziehungs- wissenschaft. Kritische Stimmen aus dieser Richtung werden nicht mehr reflexhaft abgewiesen, sondern in einen offenen Diskurs eingebunden.
Zum Autor: Jost Schieren ist Professor für Waldorfpädagogik an der Alanus Hochschule in Alfter/Bonn