Alexander Strakosch hatte zu dem Zeitpunkt jedoch noch eine hohe Stellung bei der österreichischen Bahn als Ingenieur. Durch eine glückliche Fügung gelang es ihm im Sommer 1919, an dem Stuttgarter Lehrerkurs teilzunehmen. Strakosch zeichnete sich nicht nur durch eine außerordentliche fachwissenschaftliche und technische Bildung aus, sondern auch durch eine Leidenschaft für die griechische Literatur und Philosophie, außerdem war er ausgezeichneter Violinist, guter Reiter und virtuoser Schlittschuhläufer. Darüber hinaus beherrschte er vier Sprachen. Durch seine Frau, die Malerin und Schülerin von Kandinsky war, hatte er auch einen direkten Zugang zur bildenden Kunst. 1908 hatte er die Anthroposophie kennengelernt und fühlte sich ihr und Rudolf Steiner sehr verbunden. Er kannte Steiner recht gut, nicht nur weil er ihm zu verschiedenen Vortragskursen gefolgt war, sondern auch, weil er Gelegenheit hatte, mit ihm und Marie Steiner 1911 einen Urlaub auf Istrien zu verbringen.
Obwohl er während des Lehrerkurses erst seinen 40. Geburtstag feierte, gehörte er zu den ältesten Zuhörern und erweckte in den anderen Teilnehmern durch das markante, von einem schwarzen Bart umrahmte Gesicht einen natürlichen Respekt. Trotzdem wurde er sehr schnell beliebt durch seine »Liebenswürdigkeit und fast südländische Seelenoffenheit« (H. Hahn). So wurde Strakosch im Frühjahr 1920 gebeten, seine Anstellung beim österreichischen Staat aufzugeben, nach Stuttgart umzuziehen und seine Kräfte in den Dienst der Stuttgarter Schule zu stellen. Der Aufbau der Fortbildungsschule für Schulabgänger konnte aber leider nicht verwirklicht werden. Strakosch musste sich nämlich gleich einer anderen dringenden Aufgabe annehmen, und zwar der Klassenlehrerarbeit in der verwaisten fünften Klasse. Fast so, als hätte er nie etwas anderes betrieben, lebte er sich in die neue Aufgabe ein.
Den Schülern strömten durch ihn gerade jene Bilder des modernen Lebens im reichsten Maße zu, nach denen sie so sehr verlangten. Einer seiner Schüler war Rolf Gutbrod, später einer der bedeutendsten deutschen Architekten der Nachkriegszeit. Dieser erinnerte sich ganz besonders an seinen Klassenlehrer, »der als verantwortlicher Ingenieur Bergbahnen in Österreich gebaut hatte und atemberaubend davon erzählte, wie auch von den italienischen Wanderarbeitern«. In diesen Erzählungen erahnte Gutbrod wohl seine berufliche Zukunft. Man darf sagen, dass Strakosch schon damals einen Lebenskunde-Unterricht gab, dessen Ausbau später zu einer seiner wichtigsten Aufgaben wurde.
Eine besondere Aufgabe hatte Strakosch vom Anfang an auch in der Leitung eines wissenschaftlichen Forschungsinstituts in der Trägerschaft der AG »Der Kommende Tag« mit einer biologischen, physikalischen, chemischen und einer Textilfaser-Abteilung.
Als im dritten Schuljahr für die neue 10. Klasse fünf praktische Fächer neu eingerichtet wurden, übernahm Strakosch Spinnen, Weben und technische Mechanik. Im vierten Schuljahr hatte seine siebte Klasse die Größe von 65 Schülern erreicht und wurde zweigeteilt. Erst nachdem er im Sommer 1924 diese Schüler nach der achten Klasse abgegeben hatte, übernahm er den Technologie-Unterricht in der Oberstufe. Es lag ihm sehr am Herzen, dass die Schule mit den modernsten Zweigen des Lebens verbunden blieb. »Was er auf diesem Gebiete geleistet hat, ist allen seinen Schülern unvergesslich. Der weibliche Teil der Schülerschaft hatte zwar nicht immer Sinn für die technischen Errungenschaften der Gegenwart. Durch seinen Humor und durch seine Fähigkeit, geistesgegenwärtig auf Einwände zu antworten, wusste Strakosch aber auch diese mehr Zögernden und Zurückhaltenden zu gewinnen.« Er war eine Persönlichkeit, die als neuer Lehrertypus in der Waldorfschule eine sehr wichtige Rolle spielen sollte, nämlich jemand, der seine erzieherische Qualifikation unmittelbar aus der Lebenspraxis ableiten konnte. Von solchen Persönlichkeiten erwartete Rudolf Steiner eine Erfrischung nicht nur des Unterrichts, sondern auch eine Belebung des ganzen sozialen Gefüges der Schule. Nachdem Strakosch 1934 die Schule wegen seiner jüdischen Herkunft hatte verlassen müssen, ließ er sich in der Schweiz nieder, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1958 lebte.
Zum Autor: Prof. Dr. Tomás Zdrazil ist Dozent an der Freien Hochschule in Stuttgart.