Waldorflernt

Alles beim Alten? Oder: mit neuer Kraft voraus

Ulrike Sievers
Martyn Rawson
Foto: © David-W- / photocasede

Durch jede neue Fähigkeit verändert sich unser Blick auf die Welt, unsere Einstellung zu ihr oder unsere Herangehensweise an sie. Von daher erscheint die Idee oder gar der Wunsch, nach zwei Jahren »Anders-Sein« müsse alles wieder so sein, wie es vorher war, ziemlich irritierend – denn das würde ja bedeuten, dass wir zwei Jahre unseres Lebens nichts erlebt und dazu gelernt hätten. 

Mutig Neues gestalten

Die Kinder und Jugendlichen sind der Ausgangspunkt für waldorfpädagogisches Handeln. Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass die je nach persönlicher und schulischer Situation mehr oder weniger bedrohlich oder verunsichernd erlebten Erfahrungen auch an unseren Schüler:innen nicht spurlos vorübergegangen sind. Sollten wir uns also auf die Rückkehr zur Normalität gefreut haben, dann sehen wir uns jetzt erneut mit Situationen konfrontiert, auf die wir so nicht vorbereitet waren. Wie ermutigend ist es da, sich an die vielen Unterrichtsideen zu erinnern, die Kolleg:innen während der Lockdowns entwickelt haben, um ihren Schüler:innen auch im Fernunterricht erlebnisreiche Lernsituationen zu ermöglichen. Zeugen sie doch von einem enormen Potential an kreativer Energie bei Lehrerinnen und Lehrern.

Gleichzeitig lernen wir durch den Umgang mit dem Unvorhersehbaren zu verstehen, welche Fähigkeiten für heutige Jugendliche hilfreich sein könnten, um sich auf eine noch unbekannte Zukunft vorzubereiten, das Leben zu bewältigen und Herausforderungen mutig und bereitwillig anzunehmen. Wir können also an uns selbst erforschen, was es braucht, um sich in einer unvorhergesehenen Situation zurecht zu finden und unseren Schüler:innen durch einen bewussten und mutigen Umgang mit dieser Herausforderung ein Vorbild sein.

Gemeinsam sind wir schlauer

Dort, wo Kolleg:innen, Eltern und Schüler:innen zusammen an Fragen und Lösungen arbeiten, entstehen Freude und Kraft, während Einzelkämpfer:innen sich eher überfordert fühlen und zunehmend unter Erschöpfung und Mutlosigkeit leiden. Die Coronazeit hat gezeigt, dass Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung es wert sind, gepflegt zu werden.

Regelmäßiger kollegialer Austausch hilft dabei, gemeinsam neue Ansätze zu entwickeln, zu reflektieren und auszuwerten. Im Gespräch werden verschiedene Perspektiven zusammentragen und aus der ganzheitlichen Bildgestaltung entstehen Kraft und neue Impulse, die allen zu Gute kommen. Teamfähigkeit zur Bewältigung komplexer Probleme ist also eine der Kernkompetenzen, die unsere Schüler:innen lernen sollten. 

Beziehung gibt Sicherheit

Die besondere Situation der Lockdowns hat bestimmte Zeitströmungen verstärkt und sichtbar gemacht – das können wir auch als Chance begreifen. Otto Scharmer, Autor der Theorie U, spricht von den drei »Trennungen«, die wir heute vielfach erleben: der Trennung von der Welt, der Trennung vom anderen und der Trennung von uns selbst. Constanza Kaliks, Leiterin der Pädagogischen Sektion in Dornach, spricht in einem Vortrag von drei existentiellen Fragen, die Kinder und Jugendliche derzeit bewegen: Verschwindet die Welt? Verschwindest Du? Verschwinde ich? Sie stellte die Frage, woran sich eine Erziehung orientiert, die den Menschen in seiner Menschlichkeit sieht. Und was wir tun können, wenn wir erkennen, dass dieses Menschliche gefährdet ist, zum Beispiel durch die fehlende Erfahrung des Individuellen und des eigenen Selbstes; durch einen Verlust des anderen, des Zwischen- oder Mitmenschlichen; und durch eine fehlende Verbindung mit der Erde, der Welt, dem Ort, an dem wir leben.

Unabhängig davon, welche Worte oder Bilder wir wählen, gehört es zur Aufgabe von Lehrkräften und Schule, Situationen zu schaffen, in denen Kinder und Jugendliche eine Umwelt erfahren, in der es vor allem darum geht, »Mensch zu sein«. Unser Hauptziel sollte es sein, Wege einzuschlagen, die es Heranwachsenden ermöglichen, ein Gefühl der Sicherheit und des Vertrauens zur Welt, zu den Mitmenschen und vor allem auch zu sich selbst aufzubauen, sie durch erlebbare Selbstwirksamkeit in ihrem Selbstvertrauen zu stärken und so zur Resilienz beizutragen. 

Machbar, verstehbar, bedeutsam für alle

Die Gemeinschaft spielt eine entscheidende Rolle im Leben und Lernen von Kindern und muss deshalb von Anfang an durch entsprechende Gewohnheiten gepflegt werden. Das gilt für die Klassengemeinschaft ebenso wie für die Schule als Ganzes mit allen Beteiligten. Gleichzeitig geht es im Unterricht darum, jedem Kind und Jugendlichen der Lerngemeinschaft die Teilnahme an allen Lernprozessen zu ermöglichen und durch entsprechende Aufgabenstellungen zu gewährleisten, dass sich niemand ausgeschlossen fühlt.

Die Fernunterrichtszeit hat Lehrkräfte herausgefordert, neue Wege zu finden und Methoden auszuprobieren. Dazu war es nötig, die Bedingungen des Lernens und den Lernprozess als solchen genau zu beobachten und zu verstehen. Wir meinen, dass die vielen guten Ideen nicht in der Schublade verschwinden, sondern vielmehr die Methodenvielfalt an Waldorfschulen bereichern sollten. Dabei geht es ebenso um das Erleben der Welt wie um kreative Aufgabenformate, verschiedene Sozialformen und Räume für selbstständiges Forschen und Arbeiten. Wir wollen mutig alte Traditionen unter die Lupe nehmen und immer wieder auf ihren pädagogischen Sinn hinterfragen, um so Waldorfpädagogik in die Zukunft hineinzuentwickeln.

Mit den #waldorflernt Angeboten wollen wir diese Qualitäten aufgreifen, fördern und verbreiten. Näheres dazu auf www.waldorflernt.de.

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